Freitag, 18. Mai 2007

DER MANN IN DER MENGE




Es war gerade mal kurz vor fünf am Nachmittag, jedoch die Welt versank schon in Dunkelheit. Hinter dem Bogenfenster an einem Eichentisch hockte ich und starrte hinaus. Vor mir eine heiße Suppe, die noch unberührt dahindampfte. Um mich herum das Stimmengewirr der anderen Gäste, die sich mit ihren Freunden und Freundinnen unterhielten. Menschen die sich einen Imbiss genehmigten, ein Bier tranken und gegenseitig einander vorlogen, wie schön dieser Tag doch war und das man sich liebe.

Was waren das nur für Narren ...

Mein ganzes Interesse galt dem Fenster und die Sicht hinaus in einen verregneten Abend. Neben der Tasse lag mein Buch mit den Notizen, die mich ängstigten und die ich am liebsten in den Kamin geworfen hätte. Tag für Tag las ich diese Notizen, diese Sätze deren Bedeutung und Aussage mich schreckten.

Draußen klatschte dreckiger Regen gegen das Fenster. Die Menschen schoben sich mit ihren Schirmen durch die Straßen. Ihre Gesichter offenbarten mir nichts und vielleicht war dies wieder ein Indiz dafür, dass sie nicht wussten in welcher Gefahr sie schwebten. Sie schwammen im ruhigen Gewässer des Alltags, unwissend, um die Bedrohung, die Nacht für Nacht zunahm. Eine Bedrohung, die umso schauerlicher wurde mit jedem Sonnenuntergang, wenn ich meinen Notizen glauben wollte.

Für einen Augenblick wandte ich mich vom Fenster ab, schlürfte ein wenig Suppe und versuchte dem Drang zu widerstehen die zerfledderten Seiten meines Notizbuches zu öffnen. Dort standen sie geschrieben, diese Gräueltaten, die nachts durch die Gassen und Straßen geisterten!

Der Löffel schlug zitternd an den Rand der Schüssel, als ich mit der anderen Hand die Seiten umschlug. Jedes Mal war es das Gleiche. Meine Augen klebten förmlich an den Worten. Mit meinem alten Füllfederhalter hatte ich sie geschrieben. Wenn ich in der Bibliothek saß oder abends in meiner Stube. Ich kannte ihre Jagdrouten, ich kannte ihre Opfer und ich wusste, dass es immer so weiter gehen mochte, wenn ich nicht was dagegen tat!

Plötzlich schlug etwas gegen das Fenster und ich zuckte zusammen, stieß mit dem Fuß gegen den Tisch. Die Suppe schwappte aus der Schüssel. Ich glaubte fast das Knirschen meiner Knochen zu hören, als ich mich dem Fenster zuwandte. Ein Gesicht klebte da an der Scheibe.

Ich schrie!

Dann verstummte ich. Die Gäste starrten mich an, doch was wussten die schon?

Das Gesicht am Fenster war verschwunden. Der alte Mann ging weiter. Nur ein Penner, dachte ich.
Es brauchte einige Zeit bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte. Die Kellnerin, ihr Lächeln war das einer Krankenschwester, die in einem Irrenhaus einen Kranken zulächelt, wischte den Tisch. Sie lächelte mir weiterhin zu, als ich das Buch schnell an mich riss. Ich konnte nicht anders! Was mochte sie von mir denken, wenn sie vielleicht gelesen hätte was ich schrieb? Sie hätte es doch niemals verstehen können. Sie wusste nicht um die Gefahren der Nacht!

"Alles in Ordnung?"

Diese ja geradezu obligatorische Frage ließ mich beinahe auflachen. In Ordnung? Niemals!

"Ja, ich habe mich nur erschreckt." erklärte ich.

Sie nickte, als ob sie verstand.

Ich hasste diesen Smalltalk! Fremd war sie mir, wie ich ihr und was sollte das alles? In ihren Augen sah ich, wie sie mich in die Schublade der Verrückten warf, denen man nicht zu sehr zulächeln sollte als Frau. Ihr Lächeln verschwand.

"Brauchen Sie noch was?"

Ich schüttelte den Kopf. Warum konnte sie nicht einfach jemand anderen ein Bier bringen? Ich musste mich wieder dem Fenster zuwenden! Dann überlegte ich es mir anders, als sie schon die ersten Schritte machte. Ihre Absätze klackerten auf den Holzdielen.

"Madam, haben sie eine Zigarette?"

Bei dieser Höflichkeit hielt sie inne, lächelte wieder, dieses Mal jedoch freundlicher, herzlicher. Sie kam zurück, fischte aus ihrer Schürzentasche eine Zigarette, hielt sie mir hin. Ich lächelte sie auch an, so gut ich das denn konnte. Die Schwarzbemalten Fingernägel jedoch schreckten eine Erinnerung hoch.

Fast konnte ich das Kreischen von damals hören ...

Verwundert blickte ich sie an, als sie auf der anderen Seite des Tisches Platz nahm und mir mit dem Feuerzeug die Zigarette, die zwischen meinen Lippen hing, anzündete. Schwarze Fingernägel, dachte ich, als ich den Rauch inhalierte.

Sie sah mich fragend an.

"Bitte?"

Es war offensichtlich, dass ich ihre Worte nicht verstanden hatte. Zu stark war der Sog der Erinnerung gewesen.

"Ich fragte ob sie ein Schriftsteller sind."

Oh natürlich, wenn man bedachte, das ich nur vom Untergang der Menschheit schrieb, dann konnte man mich sicherlich als Horrorschriftsteller bezeichnen. Fast hätte ich sie angeschrieen: Wenn es doch nur so wäre! Wenn es nur alles erfunden wäre!

"Nun ja, ich schreibe hin und wieder Kurzgeschichten." gab ich zu.

"Das klingt ja interessant!"

Was dachte sie denn? Ich konnte nicht bestreiten, dass die dunkelsten Geheimnisse, die ich in meinem Notizbuch zu Papier brachte, jegliches Interesse, das ich ihnen entgegenbrachte, Wert waren.

Es entstand eine Pause. Ich zog an meiner Zigarette.

Sie blickte zum Fenster hinaus. Ich tat es ihr gleich, froh wieder das zu tun, weswegen ich hierher gekommen war. Dort draußen glitten die Wolken über den Horizont. Grau, dunkel und voll Regenwasser. Rechts gegenüber befand sich die alte Kirche mit dem seltsamen Kirchturm. Die Uhr dort oben war stehen geblieben. Die goldenen Zeiger wirkten rostig, alt und zerbrechlich. Das Gestein schlammig braun, verwittert und gezeichnet.

Weniger Menschen als zuvor säumten die Straßen und ich hätte den Mann benahe übersehen, wenn nicht die Kellnerin plötzlich gesagt hätte: "Sehen sie den Kerl dort drüben?“ Sie wirkte aufgeregt und es brauchte nur einen Augenblick, bis ich ihn in der wartenden Menge, bei der Bushaltestelle, ausmachte.

Er stand dort im Schatten zweier Bäume. Eine Gestalt die fremd wirkte und verloren.

"Er sieht krank aus."

Zum ersten Mal wunderte ich mich, warum die Kellnerin das alles so sehen konnte. Sie schien es mit den gleichen Augen zu sehen wie ich. Er wirkte verletzt. Er wirkte alt und verloren, da hatte sie Recht. Die Haarsträhnen wehten ihm ins Gesicht. Es war offensichtlich, dass er uns nicht sah. Sein Blick schweifte nach Süden, die Straße entlang. Ich konnte die Augen nicht ausmachen, da er in den lang gezogenen Schatten der Bäume badete, die durch eine Laterne hervorgerufen wurden. Anders als die Menschen, die auf den Bus warteten, hatte er keinen Regenschirm. Seine Jacke war ein lederner Fetzen, der im zunehmenden Wind flatterte. Einen Schal hatte er um den Hals. Dennoch wirkte seine Kleidung alt und vermodert. Ein Relikt seiner Zeit. Er schien sich auf etwas zu stützen, doch so wie er stand konnte ich das nicht erkennen. Nur eben die leicht gebückte Haltung, wie als ob er sich krümmte.

"Ich kann das nicht länger mit ansehen", entschied die Kellnerin. Schnell erhob sie sich und ehe ich es richtig bemerkte, eilte sie hastigen Schrittes, die Absätze wild polternd auf den Holzdielen, davon.

"Halt ..." wollte ich sie stoppen. Jedoch flog da schon die Tür ins Schloss. Ein paar Gäste betrachteten mich mit fragender Miene.

Die Zigarettenschachtel und das Feuerzeug hatte sie auf dem Tisch liegen lassen. Ich griff danach, als ich Etwas Klebriges an dem Feuerzeug bemerkte.

Genaueres und erstauntes Betrachten ließ mich erschauern. Blut! Verdammt, was ging hier vor?

Draußen hastete sie mit ihren Stöckelschuhen schräg über die Straße. Ein gelbes Taxi hupte laut. Der Wind riss an ihren Haaren. Sie hatte die Hände vor der Brust überkreuzt und versuchte sich so gegen Wind, Regen und Kälte zu schützen.

Einen Augenblick lang war ich nahe daran hinter ihr her zu rennen, doch dann blickte ich auf das klebrige Feuerzeug zurück. War sie etwa auch ein Opfer?

Ich starrte ungläubig aus dem Bogenfenster, wo die Kellnerin gerade die Gestalt erreichte. Er würdigte sie keines Blickes, erst als sie offenbar ihm zurief, drehte er den Kopf in ihre Richtung.

Die Augen! Ein tiefes, kaltes Blau. Es war so durchdringend, das mir fast der Atem stehen blieb. Er war es! Der oberste aller ihrer Gebieter. Der Gott der Nacht, der Schlächter!

"Nein!"

Mein Protest ließ nur noch mehr Gäste aufhorchen und mich beobachten. Ich starrte zum Fenster hinaus, während ich das Feuerzeug vergessen in der Hand hielt. Das dreckige, fast ins braune übergehende Rot an meinen Fingern.

Die Kellnerin redete auf ihn ein. Sie gestikulierte in Richtung meines Fensters: Er solle doch schnell mit ins Warme kommen.

Fast konnte ich sie hören. Liebe nette Frau, höfflich und besorgt um den alten Kerl, der im Regen stand und offenbar krank war. Lobenswert, aber vielleicht fatal!

Konnte sie denn nicht die blasse Haut erkennen? Die blauen, wachen, jedoch kalten Augen mussten sie erschrecken, oder nicht?

Nun schien er etwas zu sagen. Sie beugte sich näher an ihn heran, offenbar sprach er sehr leise.
Wieder deutete sie in die Richtung des Lokals. Jedoch anders als zuvor nickte der Mann. Der Wind zerrte an seinen Kleidern, als er vorsichtig, von ihr gestützt ein, zwei Schritte in meine Richtung machte. Sie redete noch immer auf ihn ein. Er nickte.

Ich konnte es nicht glauben. War sie denn so blind? Seine Augen, sie zeigten plötzlich ein fieses Lächeln. Es war eines dieser Lächeln, wo der Mund keine Rolle spielt. Genau das Lächeln, das einem Glauben macht, jeden Moment Eiswürfel erbrechen zu müssen. Nun kamen sie langsam über die Straße. Dieses Mal jedoch gerade und nicht wie die Kellnerin zuvor, schräg, um schneller aus der Reichweite des Verkehrs zu sein.

Sie kamen direkt auf mein Fenster zu.

Ich ließ das Feuerzeug fallen! Wie konnte ich es nur übersehen haben, wie?

Als sie den Gehsteig direkt vor meinem Fenster erreichten, sah ich, wie blass sie war. Ihre Lippen waren fast blau, ja weißlich. War ich so blind gewesen? Aber sie waren doch rot gewesen, sie waren ...

Das Feuerzeug, woher hatte sie es?

Angewidert ließ ich es fallen, als die beiden nun direkt am Fenster standen. Die nun leblosen Augen der Kellnerin starrten mich an, als er sie gegen das Fenster drückte.

Der Mann aus der Menge lächelte, als ich mit Entsetzen die Male an ihrem Hals ausmachte. Ich konnte nicht anders. Mit aller Wucht sprang ich auf den Tisch und dann gegen das Fenster. Scherben splitterten um mich, als ich durch das Fenster schoss. Die Kellnerin landete tot neben mir auf dem Boden.

Der Mann war über mir, sein Grinsen breit, gemein und tödlich. Dann sah ich seine Zähne, diese Fangzähne ... Ich schrie, ich heulte, als er mich am Kragen packte. Mich hoch riss.
Geschrei überall. Die Menschen im Lokal sprudelten wild durch einander. Sie sprangen von den Stühlen, sie hasteten weg vom Fenster. Ihre Blicke waren ein dümmliches Starren, die Lippen zu einem großen O geformt, als der Vampir seine Zähne in mir vergrub.

Es tat nicht weh, es war sogar eine Erlösung. Ich stammelte unverständliche Worte. Gierig sog er an meinen Adern, die Zähne vergruben sich tiefer. Mir wurde schwarz vor Augen, als mein Dasein als Mensch, als Jäger ein Ende hatte und das Leben der Nacht für mich begann.

NO WAR - WENN SPRECHCHÖRE NICHT MEHR LOSLASSEN


Der 21. März war ein sonniger Tag und wie trügerisch dieser erste Frühling den Tag erstrahlen ließ, wurde Frank Gerber erst dann klar, als der Einsatz ihn ereilte. Mehr als zweihundert Menschen sollten vor der Botschaft hocken, schreien, weinen, grölen, um gegen den Krieg im Golf zu protestieren. Ein wenig traurig war er schon, als ihm klar wurde, was sein Job als Polizist von ihm verlangte. So hatte er es sich nicht ausgemalt und dennoch musste er durchhalten.

Als sie in den Einsatzwagen sprangen und die Sonnestrahlen über seine Nase strichen, kamen ihm Tränen. Er zwinkerte mit den Augen, versuchte sich zu beherrschen, jedoch es kostete so unsagbar viel Kraft. Eigentlich glaubte er nicht so stark von diesem Krieg betroffen zu sein. Er hatte keine Verwandte dort, war hier geborgen in einem demokratischen Land mit all seinen Schwächen und Problemen. Er erinnerte sich wie er am Morgen, als der Kaffeebecher zu Boden gefallen war, das heiße Gebräu den Fußboden bespritzte wie dreckiges Blut, an die Erzählungen seines Großvaters vom Weltkrieg gedacht hatte. Irgendwie haftete diesen Erzählungen etwas Staubiges an und genauso den Dokumentationen die in Grautönen den Horror ausleuchteten.

Dieses Mal war es ganz anders. Der kleine Fernseher hatte die Live-Bilder gezeigt von den Panzern die durch den Wüstensand pflügten. Eine brachiale Gewalt, eine Welle des Grauens, hatte er gedacht. Es war nicht seine Art solche Vergleiche heran zu ziehen, doch der Krieg schien den Menschen zu verändern, ihn aufzuwecken. Der Lappen sog die Kaffeelachen in sich auf, wie wohl der Wüstensand das Blut von Menschen verschlingen würde.

Der Polizeitransporter setzte sich in Bewegung. Die Einsatzbesprechung war seltsam gewesen. Ihr Instruktor hatte ihnen klar gemacht, das den Protestierenden maximal noch 30 Minuten nach ihrer Ankunft verbleiben sollten. Dann war es an ihnen sie wegzudrängen und die Demo aufzulösen. Niemand traute sich zu fragen wieso und warum. Sie alle nickten langsam. Keiner machte irgendwelche Spielereien oder wirkte desinteressiert, wie bei den Atomtransporten, die gleichfalls eine Zeit der Demonstrationen waren.

Die Fahrt gestaltete sich ruhig. Nichts passierte. Frank blickte aus dem Fenster und dennoch konnte er nichts sehen. Seine Augen schienen in sich gekehrt, wo er selbst gegen die innere Wut zu kämpfen hatte. Es war alles so gemein und hinterhältig. Wenn man sich die täglichen Berichte anschaute und sah wie es sich entwickelte, war klar, der Krieg war von Anfang an das Ende der ganzen Sache gewesen. Egal wie man dagegen aufbegehrte. Jeder schien es zu wissen, aber dennoch man musste es leugnen, um irgendwie noch die Flamme der Hoffnung im eigenen Herzen leuchten zu lassen.

Frank dachte an das nette Mädchen vom letzten Wochenende in der Disko. Er wusste sich nicht zu helfen, ihre Gestalt erschien wie ein kleiner Engel als Trost und Gegenpart zu seiner aufflammenden Wut der Hilflosigkeit. Er wollte nicht den Menschen ins Gesicht sagen, sie dürften ihre Ansichten nicht hier vor der Botschaft der Vereinigten Staaten in den Frühlingshimmel rufen. Sie war keine Deutsche gewesen, ihre Sprache voller kleiner Fehler, die ihn aber verzückt hatten. Die braunen Augen hatten ihn nicht losgelassen. Er glaubte sie war Türkin gewesen, aber so klar war das nicht, denn sie hatten natürlich nicht über Herkunft gesprochen.

Plötzlich glitten die Worte über die vorher noch so zusammengepressten Lippen: „Es ist doch scheißegal! Entweder man ist Mensch oder man ist Unmensch! Jemand der Krieg führt ist ein Unmensch!“

Zwei seiner Kollegen blickten ihn verdutzt an. Sie saßen so hilflos dort auf der Sitzbank des kleinen Transporters. Ihre grünen Uniformen hatten die Farbe von sterbenden Blättern und ihre Augen waren müde. Er konnte in ihnen sich wieder erkennen, denn genau so hatte er heute Morgen auch in den Badspiegel geblickt. Es war nicht die erste Demo und es würde nicht die letzte sein, die sie auflösen mussten. Aber er war sich sicher, er musste endlich auch Farbe bekennen.

„Wenn Bomben fallen, sterben Menschen. Wenn Menschen sterben, sterben Worte. Wenn Worte sterben, stirbt die Vernunft!“

Er wusste nicht was mit ihm da geschah. Er las nur hin und wieder und meist nur Zeitung oder Comics. Woher kam diese Entschlossenheit?

„Hey, Frank. Beruhige dich!“ meinte einer seiner Kumpanen.

Der Transporter erreichte den Ort ihres Einsatzes. Einer schob die Schiebetür mit wuchtigem Schwung zur Seite und sie sprangen nacheinander aus dem Wagen. Manche nahmen gleich den Schlagstock zur Hand, andere sahen sich nur um. Sie waren sieben im Wagen gewesen. Doch es war eine ganze Kolonne.

Die Polizisten brachten sich in Position; formten einen Ring um die sitzenden Demonstranten. Frank wurde mehr oder weniger mitgezogen. Seine Augen beobachteten, sein Herz schlug und dennoch kämpfte er mit dem geistigen Tod. Entweder seine Meinung starb oder er schaffte es zu handeln nach seinem Herzen.

Es waren Menschen wie er, jedoch hatten sie Mut und standen zu ihren Gedanken. Dort saßen Frauen, Kinder, Jugendliche. Ein alter Mann paffte eine Zigarre und sein grauer Anorak war mit Filzstiften bemalt. NO WAR. Die Buchstaben wirkten zittrig, der Mann jedoch saß felsenfest auf dem Asphalt.

Dann begann der Sprechchor.

„NO WAR“, schrieen sie.

„Entweder man ist Mensch oder man ist Unmensch! Jemand der Krieg führt ist ein Unmensch!“ rief Frank wieder.

Blicke folgten den Worten. Seine Arbeitskollegen schienen sich auf die Lippen zu beißen. Zwei Mädchen jubelten plötzlich. Eine drosch ihm vor Freude gegen das Schienbein und schrie: „NO WAR“.

„Wenn Bomben fallen, sterben Menschen. Wenn Menschen sterben, sterben Worte. Wenn Worte sterben, stirbt die Vernunft!“ konnte Frank nicht an sich halten und abermals waren sowohl Polizisten als Demonstranten überrascht.

So ging es die verbleibenden 30 Minuten. Schließlich war der Zeitpunkt gekommen, sie mussten das Feld räumen.

Die ersten weigerten sich um sich schlagend, andere riefen immer wieder NO WAR voller Inbrunst, selbst als sie an ihren Händen auseinander gezerrt wurden.

Dann schrie Frank:
Wenn Bomben fallen, sterben Menschen. Wenn Menschen sterben, sterben Worte. Wenn Worte sterben, stirbt die Vernunft!
Die Demonstranten fielen mit ein. NO WAR - Wenn Bomben fallen, sterben Menschen. Wenn Menschen sterben, sterben Worte. Wenn Worte sterben, stirbt die Vernunft!

Zum Schluss standen die Polizisten um die Demonstranten und riefen gleichfalls NO WAR. Was sollte man tun? Sich gegen sich selbst wenden oder gegen den Krieg?

NO WAR Sprechchöre schallten gegen die kalten Wände der Botschaft, gegen Fenster und über den Platz. Zwischen den Polizisten und Demonstranten mischten sich immer mehr Menschen.

Und morgen wieder …

AUS DEM SCHLOSS DER EWIGKEIT

In Gedenken an H. P. Lovecraft


Stille, dort in der Einsamkeit des zaghaften Herzens, hinter tausend Mauern, in einer Welt, so tief verborgen! Dort höre ich die Tränen, wie sie auf den kalten Boden tropfen. Ich höre das Schluchzen, spüre die Trauer, wie eine Welle der Unendlichkeit, wie ein Klammergriff der Dunkelheit, die dieses einsame Schloss erfüllt.

Die Schlüssel zu den tausend Toren kannst nur Du öffnen, unheiliger Geist! Gib mir die Kraft! In einem Schloss der Dunkelheit, mit kalten Mauern, wo tausend Menschen trauern, Wesen wie Du und ich, alle sind verloren, liege ich. Hoffnung, die Sonne der Optimisten, ist schon lang nicht mehr am Horizont zu sehen. Nur Dunkelheit, ein ewiges Meer aus Schwarz, das sich mit dem grau des Schlosses der Ewigkeit verwebt in einen Traum, aus dem es kein Erwachen gibt.

Der Zeit der Trauer folgt das ewige Wandern, entlang der Gänge, zwischen Schatten und dunklen Gestalten. Ich sehe Geister aus dem Leben, dass ich verlor. Ich schwimme in Erinnerungen, in einem Meer aus Eis, in dem ich vor langem erfror. Ich hab nicht verstanden, was das Leben bringt, wenn nicht Trauer, in all seinen Formen.

Alles geschah an einem Tag, an dem ich zu meiner letzten Reisen mich aufmachte. Das Ziel war mir unbekannt, aber wir wandern durch unser Leben, ohne wirklich zu wissen, hinter welcher Kurve das Ende lauert. In meinem jämmerlichen Fall, was es der Schritt zu viel, als ich zwischen dem Hier und Jetzt, einfach in die Dunkelheit hinab fiel. Es war ein Haus mit vielen Spiegeln gewesen. Das Glas warf eine jämmerliche Gestalt zurück, ganz Haut und Skelett, dürr und verloren. Das war ich! Nach meiner Jagd, durch den Wald der Grausamkeiten, durch ein Leben voll Regen und Schatten.

Mein Gedächtnis macht tausend Sprünge, als ich mich aus der dunklen Tiefe erhebe. Ich erwache, Geist der vergessenen Zeit, als irgendwo in dieser Welt, das Neugeborene schreit. Der neue Herrscher über das das Schloss der Ewigkeit, der Kraft und Trauer in sich vereint. Ich bin das Nichts, der Geist der Verlorenen Seelen, ich werde kommen, wenn sie dich pfählen. Ketzer, Hexe oder Hexer, sie wissen es alle besser! Dämonen in einer Welt voller Technik und Wissenschaft, aber dennoch, niemand gibt zu, was in der Nacht sich erhebt, ist der Dämon, der dunkle Gott, dessen Herrschaft niemals zu Ende geht!

Doch die Macht ist tausendmal stärker, als all die Mathematik, als Biologie oder anderes Wissenssgeschick. Sie können es nicht begreifen, mit ihren gelehrigen Gehirnen, mögen sie noch ewig suchen, in den Himmelsgestirnen! Nach einer Antwort auf Leben und Tod, während die Dunkelheit die Welt zu verschlingen droht.

In dem Haus mit den Spiegeln, sah ich die Wahrheit, klar und blutig. Sah die Kriege, in einem Augenblick, war die zZit ein schnelles Banner im Wind. Sah Menschen sterben, egal ob Frau oder Kind. Sah das Wissen sich vermehren, das zu neuer blutiger Wut, den Menschen gereicht, um sich zu vernichten, während der Wahnsinn in ihren Köpfen niemals ruht.

Doch das heilige Kind, der Advokat des Untergangs, sie sehen es nicht. Sie hören es nicht schreien, während die Mutter in Qualen stirbt, denn es ist nicht von dieser Welt! Es kommt von den dunklen Schwefelhöhlen!

Ich war einer von ihnen! Ich war ein Gläubiger des Glaubens der Unvernunft, der Gelehrten Köpfe, suchte nach den Antworten, aus Büchern mit vergilbten Seiten. Ich lass die Unaussprechlichen Kulte von Junzt, versank in der unendlichen Wissensfülle des Necronomicons und begann die letzten Schritte zu wagen, die dich zum Wahnsinn hinüber tragen!

In Salem schimpft man sie Hexen, in anderen Ländern jauchzt man den Namen des Alten mit einem Lechzen nach Dunkelheit. Sie wollen, dass man diese Welt befreit!

In der Stadt unterm Meer schläft Er, dort wird Ihn das Kind befreien, dort werden die Sterne leuchten, in einem glimmenden Dreieck. Lasst Ihn erwachen! Cthulhu, den Dämon der tausend Träume, den Herrscher dieser Welt!

Ich fand das Haus mit den Spiegeln, wie im Buch beschrieben. Tage, Wochen, ja Monate brauchte ich für die Reise. Mein Geist ein fiebriges Wesen, wo die Zeilen der vielen Bücher zu dunklen Stimmen sich verrannen, von dunklen Riten, blutbefleckt, durch Geheimnisse ins sagenhafte verdrängt. Schließlich stand ich im Raum der Wahrheit, sah im Spiegel die Macht des Gottes, rief seinen Namen. Cthulhu! Erwache! Das Kind wird dich retten, wird die Tore der cyklopischen Stadt im tiefen Meer endlich öffnen!

Heute Nacht im Schloss der Ewigkeit erwacht das Kind, singt es Dein Lied! Ich stehe an der Krippe und lächle, ich weiß, Deine Zeit ist nahe, mächtiger Cthulhu! In dem Städtchen Innsmouth tanzen sie die Tänze, im Busch ebenso! Es ist Zeit. Deine Zeit der Herrschaft ist reif! Die Sterne am Himmel haben die sagenumwobene Position erreicht!

Als die Stimme über das Meer getragen wird, aus dem einzigen Fenster im höchsten Turm des Schlosses, erzittert die Erde, erwacht der Planet. Das Donnern grollt durch unsere Körper, eine Welle von unsagbarem Wahnsinn ebbt über die Welt. In den Ländern, wo Frieden herrschte, werden die Menschen die Wissenschaftler foltern, werden sie in ihre Gesichter spucken, währen sie deinen Namen rufen! CTHULHU!

Die Festen des Schlosses beben, als sich mit Dir die tausend anderen Geister erheben. Dein Antlitz, die Entsetzlichkeit, verdeckt die Sonne, während Dir Stürme folgen, die das Land überrollen. In den Winden schwebt Dein Name, Riten beginnen im Schatten Deiner Mächtigkeit, während das Kind ewig weint. Weint, und die Menschheit schreit!

Ich bin nun Dein, ein ruheloser Geist. Dies sind meine letzten Worte, die von den verrinnenden Stunden der Menschheit sprechen. Cthulhu ist erwacht, der Packt hat sich erfüllt und die Welt in Dunkelheit gehüllt. Das letzte Kapitel des Necronomicons wird geschrieben.

Ich versinke wieder in der Dunkelheit, zwischen den Mauern des Schlosses der Ewigkeit, wo das Kind noch immer weint.

HINTER DEM TUNNEL DIE FREIHEIT


Es ist Sommer, die Sonne ein flammender Ball am Horizont, fern und dennoch so nah. Sie liegt im hohen Gras, das zum leichten Wind tanzt. Das junge Mädchen, versunken in der Melodie des Lebens, während das Land um sie herum in tausend Stücke zerbricht. Sie ist gezeichnet davon und dennoch, sie will träumen, weg von den Bomben, von dem Donnern, mal fern, mal tödlich nah. Dann die Hitze und zum Schluss nur noch eine ewige Schwärze. Es ist Krieg im Land der aufgehenden Sonne, und dieses kleine Mädchen, es liegt dort im Gras - versunken in der Frage, die ihr Leben bestimmte. Eine Entscheidung, die gefällt werden musste, die sie dazu brachte, immer wieder nach Westen zu sehen, dort, wo der dunkle Schatten des langen Tunnels wartete. Die Grashügel, die den Tunnel umgaben, das leuchtende Grün, gegen dieses schwarze Ungetüm, es wirkte so fremd. Denn dahinter lag Freiheit und Frieden.

Izumi ihr Name, ihre Augen groß, schwarz und so unschuldig. Und erst gestern hatte sie die andere Seite des Lebens entdeckt, als ihr Vater von der Polizei verschleppt wurde. In dem kleinen Haus am Berg, ihrem zu Hause. Das war nicht weit von hier, wo sie im Gras lag und leise weinte, während diese eine Frage, diese Versuchung, durch ihren Kopf schwirrte, gleich einem aufgeschreckten Kranich.

Das plötzliche Klopfen, erst höflich, aber bestimmt. Die Augen ihres Vaters, das Entsetzen, die Angst eine deutliche Spur der Trauer, als er plötzlich flüsterte: „Zumi, lauf! Hinten raus, aber schnell!“ Wieder das Klopfen. Dazu ein wildes Japanisch, hier und da englische Sprachfetzen. Doch die kleine Izumi verstand nichts von alledem. Aber die Augen ihres Vaters sagten mehr als tausend Worte, waren wie große Alarmleuchten, die plötzlich blinkten. Sie rannte, das schwarze Kleid wehte im Wind.

Mit ihren zehn Jahren war sie noch nicht sehr groß und die Gräser, ein grünes, weiches, scheinbar unendlich großes Meer umschlang sie, strich durch ihr Gesicht, als sie einfach rannte. Sie kannte die Gegend hier vom Spielen, aber als sie die Rufe hinter sich hörte, dann das Splittern des Holzes der Haustür und schließlich die Schreie ihres Vaters, weinte sie und rannte, rannte und weinte, nur fort, nur irgendwohin.

Das Unterbewusstsein mochte ihr einen Streich gespielt haben, wie sonst kam es, dass sie einen Platz der Trauer aufsuchte? Hier war ihre Mutter verschleppt worden, wie man sagte. Aber was bedeutete das? Verschleppt? Sie hatte gefragt, aber ihr Vater hatte nicht sprechen können. „Sie kommt wieder.“, war das Versprechen seinerseits gewesen. Aber das war doch schon so lange her, wie lange mochte Chichi wohl gemeint haben?

Der Wind flüsterte in ihr Ohr, eine süße Melodie, eine Art Lied über die Freiheit. Sie schloss die Augen, dort im Grase hin und her schaukelnd, als wolle sie sich in den Schlaf wiegen. Den Schlaf des Vergessens, der Flucht. Der Tunnel, ein großes schwarzes Rohr, in der Mitte ein weißer Punkt, das Licht von der anderen Seite, wo die Freiheit wartete. „Hinter dem Tunnel die Freiheit“, murmelte sie. Woher kamen diese Worte? Von ihrer Mutter? Sie glaubte sich ganz neblig an einen Abend erinnern zu können. Sie mochte damals fünf gewesen sein, vielleicht aber auch schon älter. Jedenfalls hatte sie ihre Eltern belauscht, als die gestritten hatten. Wahrscheinlich davon erwacht, hatte sie gehorcht und dennoch nicht verstanden.

„Bald wird dieses Land nur noch Feuererde sein!“, hatte ihre Mutter heraus gepresst. Feuererde? Was war das?

„Nein, Aki!“ Ihres Vaters Stimme, hart, so ganz anders als sonst. Er konnte ihr doch keinen Wunsch abschlagen, weder die letzten Reisbällchen noch eine Gutenachtgeschichte. Er dachte immer an sie und liebte sie. Aki, ihre Mutter, die Kurzform von Akiko, so nannte er sie äußerst selten. Einmal war sie sein „Abendstern“, die „liebe Mama“ oder „sein leuchtendes Herbstblatt. Doch in jener Nacht, trotz des Feuers, befand sich nur eine eisige Kälte in der Hütte.

„Alle sagen, sie werden kommen! Wir können den Krieg nicht gewinnen! Du weißt es! Sie spielen alle verrückt!“

„Aber diese Amerikaner… Wir können sie schlagen! Feuererde, wie kommst du auf solch einen Schwachsinn.“

„Lass uns fort von hier… Ich will weg, Hiro, warum verstehst du das nicht?“

„Weil es unser Land ist! Warum verstehst du das nicht?“

Dann hatte der Schlaf sie übermannt und wenige Tage später war es geschehen. Die ersten Flugzeuge, große schwarze unförmige, eiserne Vögel am Horizont. Die Hitze, ewige Feuer im Westen und Angst, die über das Land flutete wie eine dunkle Wolke.

Solch eine Hitzwelle strömte wieder heran, dieses Mal so nah und als die kleine Izumi
aufsprang, konnte sie das brennende Gras sehen. Die grünen Ebenen, Anhöhen, das weite Land, alles verwandelte sich in die vorhergesagte Feuererde. Schreie aus der Ferne, dünne Stimmen, sterbend und ohne eine Chance. Doch im Westen, da war noch immer der Tunnel.

Izumi sprintete los. „Mutter!“, rief sie. Ihre kleinen Füße stolperten hier und da, doch der noch grüne Rasen bettete sie jedes Mal weich. Die Hitze war ein ruheloser Geist, eine Schar von bösen Dämonen, wie in den Geschichten, die ihr Vater aus den Ahnentafeln Legenden sponn, die er als kleiner Junge, so hatte er erzählt, von seinem Vater vorgelesen bekam.

Der Tunnel ragte hoch empor, als sie in den Schatten trat. Wie nah die Hitze schon war! Schweiß rann ihr den Körper herab, das Haar klebte im Gesicht und sie spürte, der Tod, ein böses Etwas, folgte ihr und der Tunnel, das schwarze Loch, erwartete sie mit geisterhafter Finsternis.

Eines Abends, als sie ihrem Vater erzählte, dass sie beim Tunnel gespielt hatte, zog er sie wütend an den Haaren. Die Reisschüssel an jenem Abend blieb unberührt und die Tränen auf ihren Wangen klebten wie Schuld. „Geh da nicht wieder hin! Dort ist es gefährlich! Mehr hatte er nicht gesagt. Als sie aber den Mut aufbrachte, fragte sie: “Ist Mutter dort?“ Er hatte sofort den Kopf geschüttelt, doch Yo Mi wusste, das war nicht die Wahrheit. So war sie immer wieder hierher gekommen, an den Tunneleingang und hatte hinein geblickt, voller Furcht und Sorge, was auch immer von dort kommen mochte.

Jetzt, als die Hitze sie umschlang, sie dort im Schatten des Gebäudes stand, war sie hin und her gerissen. Links und Rechts waren die grünen Höhen, doch dort fraß das Feuer sich entlang am Horizont nur schwarzer Rauch, die Welt ein heißes Flimmern und Izumi sah nichts mehr, außer jene prophezeite Feuererde. In der Ferne das Toben der Flugzeuge. Sie hörte die lauten Motoren, weiter, in der Ferne, ein dünnes Pfeifen, ein Donnern und dann, plötzlich, Stille. Ein, zwei Sekunden verrannen. Sie schluckte, hustete wild, als ihr auffiel, sie hatte nicht geatmet!

Als die Atombombe fern, weit weg von ihr, das Land zerklüftete, es in Flammen setzte, Menschen in Asche zerbrannte, Häuser einstürzten, Chaos wütete, standen die Gräser still, für wenige Atemzüge war alles wie in Stein gehauen. Ein Wimpernzucken folgte, und die Flammen kamen näher.

Das kleine Mädchen rannte in den tiefen Schlund des Tunnels. Der Kies machte das Laufen schwer, doch sie kam voran. Tausend Stimmen schienen sich an den Wänden zu brechen, nach ihr zu rufen und es brauchte geraume Zeit, bis ihre wachsamen Augen einigermaßen sehen konnten.

Wie viele Meter sie hinein wanderte, war nicht auszumachen. Von weiter her der dünne Lichtstrahl, der jedoch, Schritt für Schritt grauer zu werden schien. Sie hörte Donnern, die Erde bebte wenig später und sie merkte, wie die anfänglich angenehme Kälte des Tunnels von der Hitze verschlungen wurde.

„Hinter dem Tunnel die Freiheit!“, schrie sie und rannte, während die Flugzeuge im Land ihre zerstörerischen Frachten auf Japan nieder regnen ließen.

Dann plötzlich Stille, als sie glaubte kurz vor dem Ausgang zu sein. Eine schwarze Wolke in der Ferne, nur wenig Licht, das noch herein sickerte. Dort draußen, was erwartete sie da? „Hinter dem Tunnel die Freiheit!“, rief sie wieder. Immer noch Stille und dann, als die Hitze sie erfasste, ihr auf dem Rücken brannte, das Licht in ein heißes Weiß zerschmolz, griff plötzlich jemand nach ihr, zerrte sie durch eine Tür, die Treppen hinunter, in einen Bunker.

Izumi weinte, doch sie war zu keinen Tränen mehr fähig. „Mutter! Vater!“, heulte sie, sank zu Boden und trotz der Stimmen der Anderen war sie allein. Bis plötzlich jemand sagte: „Nicht hinter dem Tunnel! Im Tunnel die Freiheit.“ Es war eine traurige Stimme. Doch, als das kleine Mädchen aufblickte, sah sie ihre Mutter. Sie war wie ein Geist, wie Vater gesagt, wie er von den Ahnen erzählt hatte. Ein Bild aus Rauch, eine Stimme, die sie tröstete, aber dennoch, Izumi war allein.

War das nur ein Traum? Warum kam ihre Mutter sie nicht umarmen? Sie wollte nicht begreifen, dass sie hier allein in dem Bunker lag, ihre Mutter irgendwo war, nur nicht hier und dort draußen das Land in jene Feuererde verwandelt wurde, vor der ihre Mutter gewarnt hatte. „Hinter dem Tunnel, die Freiheit“, gab sie nicht auf, wiegte sich in den Schlaf.

Das Land brannte, doch der Tunnel war verschont geblieben. Als sie wieder erwachte, lag sie auf einer Pritsche in Decken gehüllt, und eine zittrige Hand hielt ihr eine Reisschale hin. „Iss!“

Die Finger mit dem Reis an ihrem Mund, sie waren warm und liebevoll. Dennoch war sie zu schwach, die Augen zu öffnen. Später würde sie das tun. Wenn sie sich stärker fühlte.

„Hinter dem Tunnel….“

„Wartet der Frieden.“, sagte jemand.

„Ist ein neuer Tag.“, sagte noch jemand.

Dann, als sie in den Schlaf sank und wenig später unvermittelt hochfuhr, sah sie die Menschen um sich herum. Sie waren alle da, all die vielen Gesichter. „Mutter?“

Die Alte kam wieder, strich ihr durchs Haar. „Bald, meine Kleine.“

„Wann?“, weinte Izumi.

„Du weißt es doch“.

„Hinter dem Tunnel die Freiheit“, wisperte sie, voller Hoffnung, die Augen leuchtende Opale.

„Bald.“

Als Izumi in den Schlaf zurück fiel, wusste sie die Antwort. Bald bedeutete, wenn hinter dem Tunnel wirklich die Freiheit wartete.

MEERESFIEBER


Jedes Jahr, wenn die Sonne tief am Himmel hing, wenn die letzten Tage des Jahres nur darauf warteten, in ein neues Jahr hinüber zu wandern, kam Celine an diesen Strand. Eine kalte, grünlich blaue Küste irgendwo auf dieser Welt. Es war ein Ort, an dem Zeit nichts weiter war, als ein Gedanke, für den es keine Grenzen gab. Die alten Hütten trotzten Wind und Wetter und über alledem lag Frieden über der Bucht, durchsetzt von salziger Meeresluft.

Als der Wind um ihre Wangen strich und ihr das lange, rote Haar zerzauste, spürte sie es wieder: Das Meeresfieber! Sie hatte alles stehen und liegen lassen, hatte sich davon gemacht, war viele Meilen durch Tag und Nacht gefahren und endlich war sie hier.

Der alte Leuchtturm warf noch immer jenen seltsamen, gebogenen Schatten längs über das Wasser, als die Sonne weiter hinab sank, um dem kommenden Vollmond den Horizont zu überlassen. Die Stimme des Windes war voll Geflüster, voll verlorener Seelen, die das Meer an sich gerissen hatte und dennoch erfasste sie keine Trauer, bei dem Gedanken daran im Meer zu ertrinken.

Sie hatte nur einen dünnen Mantel über ihre Bluse gezogen und die Fransen an den Säumen der Jeanshose flatterten im Wind. Der Mantel wehte wie eine Fahne auf Halbmast und Celine konnte sich nicht mehr erinnern, wie lang sie hier schon stand. Ihre Halbschuhe waren voll Wasser und so schlüpfte sie einfach aus ihnen heraus. Die Strümpfe waren gleichfalls mit Wasser und Sand vollgesogen.

Wenig später, als sie barfuss im Auf und Ab der Wellen badete, konnte sie neben dem Gebrüll, der gegen die Steilküste donnernden Wellen, eine andere Stimme hören. Unvermittelt lief sie ein paar Schritte in die Wellen hinein, ließ das Wasser gegen ihre Knie schlagen und suchte am Horizont nach einem Zeichen. Sie hörte nur die Stimme, die ein trauriges Lied sang und begann verträumt mit zu summen.

Es war eine Melodie, die tief in ihrer Vergangenheit verankert war und die Erinnerungen, die plötzlich in einem Meer aus Gefühlen ihr Unterbewusstsein überschwemmten, machten ihr Angst. Es war wieder dieser verhängnisvolle Abend, als das Boot weit draußen gegen einen aufkommenden Sturm ankämpfte. Sie konnte die feuchten Regentropfen plötzlich spüren und dann befand sie sich in der Dunkelheit und dem Kreischen des Windes.

Sie zuckte zusammen, dort am Strand und dennoch war sie weiter weg, als je zuvor. Sie sah ihn, seine Augen blitzten, als vom Himmel gleißende Stäbe aufflackerten und ins Meer schossen, begleitet vom mächtigen Donner. Das Schaukeln des Fischkutters war wild und ungezähmt. Sie hatten keine Chance gehabt, dem plötzlich aufflackernden Sturm zu entkommen und er hatte sie erbarmungslos verfolgt. Erst die dunklen Wolkenmassen, die sie jagten und schnell einholten, sie schließlich umschlangen und dann das Brüllen des Gewitters. Die Wellen waren immer weiter empor gestiegen, zu riesigen Wällen aus braunem Wasser.

Der Augenblick, als das Meer ihn ihr entrissen hatte, war zeitlos, wie die Tage und Nächte, die sie Jahr für Jahr an diesem Strand verbrachte, wartend und mit einer fast krankhaften Hoffnung, er würde sie holen. Die Wellen waren wie riesige Tentakel über das Deck geschossen, hatten ihn fortgetragen. Sein Schrei war nichts als Angst gewesen und dennoch glaubte sie, er war glücklich, dort in den Tiefen.

Denn er musste nicht mehr Tag für Tag das Starren der Leute im Dorf ertragen, die nicht verstehen konnten, warum sie sich kaum in der Öffentlichkeit zeigte. Er musste nicht durch die Gänge der Bibliotheken wandern, auf der Suche nach Antworten, für Dinge, die ihr keine Ruhe ließen! Warum kam sie jedes Jahr zur gleichen Zeit, fast wie die Zugvögel, an diesen Strand? Wovor ängstigte sie sich und was war ihr Schicksal?

Das Meer rief nach ihr. Die Geheimnisse, die unter den tobenden Wellen ruhen mochten, machten ihr Angst. Warum war nur sie mit ihrem jämmerlichen Leben davon gekommen und er in den Fluten ertrunken? Sie hatte doch mit ihm leben und sterben wollen! War der simple Wunsch nach Liebe und Geborgenheit ein Fluch?

Doch dann erinnerte sie sich, kurz bevor die Wellen ihren Hals erreichten und sie aus den Gedanken und Sorgen der Vergangenheit erwachte, warum sie hergekommen war. Sie wollte sich verabschieden von ihm, denn Erick, ihr Sohn brauchte sie!

"Er ist genau wie Du", flüsterte sie. Sie schmeckte schon das Salz des Meeres auf den Lippen.

"Er hat deine blauen Augen, Steve!", schrie sie. Das Wasser spritzte ihr in die Nasenlöcher und sie konnte die Kälte spüren.

"Steve, ich habe ein neues Leben. Die Zeit der Trauer ist vorbei, es sind mehr als sieben Jahre."

Dann geschah es. Es war ein seltsames déjà vu. Die Wellen rissen an ihr, als die dunklen Wolkenmassen über den Horizont wallten. Der Wind heulte, stürmte, bis er schließlich mit dem Tosen der Wellen kreischte. Celine stand im Meer, blickte hinauf in die Wolken, als die ersten Regentropfen ihr ins Gesicht klatschten. Augenblicke später blitzte und donnerte es.

Sie stand dort und lächelte, denn in dem Heulen des Windes war seine Stimme. Es war die Stimme, nach der sie sich sehnte und die ihr sagte: Gehe fort, sei glücklich, dann bin ich es auch.
Sie lächelte, denn im Wind flüsterte er: Wenn die Sterne am Himmel stehen und Dir sagen, Du sollst kommen, bring mir meinen Sohn! Zeig ihm das Meer.

Die Wellen schienen sie nicht mehr zu erreichen und als sie erschöpft im Sand lag, war die Nacht am Erlöschen. Um sie herum waren Hunderte Muscheln, die den Strand mit einem seltsamen Muster verzierten. So wunderschön und als das erste Licht des neuen Tages über das Meer strahlte, konnte sie dort in der Ferne ein Boot sehen. Sie wusste er war bei ihr gewesen und hatte sich verabschiedet.

Als sie den Strand entlang wanderte zu ihrem alten Ford und sich ein letztes Mal umsah, erkannte sie, dass die Muscheln das Wort ERICK schrieben.

Es ist vorbei, ich bin frei, dachte sie. Ihr Meeresfieber war erloschen, doch ihre Liebe und Träume strahlten in eine neue Zukunft.

ABSCHIED




Machen Sie sich viel Gedanken über die Menschen, die an Ihnen vorbei kommen, wenn Sie durch die Stadt laufen? Nun, ich eigentlich auch nicht. Aber schauen Sie, genau da fängt meine Geschichte an, mitten in der Sonne, mitten im Nirgendwo einer riesigen Stadt. Es war ein typischer Sommermorgen gewesen. Menschen in T-Shirts, Autos mit heruntergelassen Fensterscheiben; brüllende Stereoanlagen, CD-Wechsler im Kofferraum, die der Hitze strotzten.

Die Bushaltestellte war nicht sehr belebt, wahrscheinlich wollte keiner an diesem Tag irgendwo hin, dachte ich so bei mir, als mein Blick auf ein Mädchen fiel. Es war ein seltsamer Blick, den ich ihr schenkte. Vielleicht abschätzend, vielleicht aber auch voll von Verträumtheit, oder aber auch erfüllt von Angst. Angst wegen dem, was vor mir lag. Morgen würde ich um die gleiche Zeit, so dachte ich, im Bett liegen, in einem Zimmer nahe der Universität und heulen, weil ich das erste Mal meine Familie verließ. Ja, ich bin so ein kindischer Kerl, der nicht loslassen kann. Umso schlimmer erscheint es mir auch jetzt, dass ich damals nicht verstand.

Jedenfalls lief ich zu dieser Bushaltestelle und beobachtete, wie das Mädchen dort saß und, es war zu offensichtlich in ihrer Haltung; - sie weinte. Ihre langen schwarzen Haare hingen ihr wie ein dunkler Schleier ums Gesicht und dennoch, glaubte ich die Lippen zittern zu sehen. Meine Tasche war nicht schwer, denn die ganzen Sachen hatten wir schon vor zwei Wochen weggebracht. Manche per Post, andere mit dem Wagen. Die ganze Familie war stolz darauf, dass ich es auf eine Uni schaffte, wo Andere nur von träumten. Nicht Harvard, nichts so hochgestochenes. Sagen wir, einfach eine Uni, wobei es nicht wichtig ist, denn der nächste Tag war gleichzeitig auch das Ende meiner Studienlaufbahn.

Als ich mich an das andere Ende der Bank setzte, sah sie nicht auf. Doch ich merkte, wie sie ihre Tränen aus dem Gesicht wischte. Meine Eltern hatten mich zu Hause verabschiedet, weil ich darauf bestanden hatte. Ich wollte keine langen Abschiedsszenen, ich wollte keine weißen Taschentücher, keine Tränen, keine guten Wünsche; - ich wollte jemand Anderes werden. Jemand, der auch alleine etwas schaffte, ohne immer dem Wunsch nachzugehen, Andere glücklich zu machen. Es war ein seltsamer Wunsch, der mich da durchdrängte. Aber gut, ich war 19 Jahre, ich war bereit die Welt zu erobern. Zumindest dachte ich das.

Das Mädchen schluchzte nun, in dem sie sich nicht rührte, dort saß und einfach im Inneren ihre Seele verbrannte. Anfangs war es mir unangenehm. Ich wusste nichts Anderes zu tun, als Stift und Papier zu nehmen, sie verstohlen zu beobachten. Der Bleistift in meinen Fingern erwachte zum Leben und ich begann sie zu zeichnen. Jedoch nicht, das Mädchen dort neben mir. Nicht diese Trauergestalt, sondern, so verstand ich, das Mädchen, das sie gewesen war, bevor alledem.

Irgendwann, als ich das Bild nahe der Vollendung hatte, blickte sie auf. Ich sah sie an. Die Augen waren verquollen und gerötet. Die Lippen geschwollen und ich sah in die Augen einer verlorenen Seele. Ich entdeckte in ihnen, was sie nicht mehr war.

Es ist verrückt zu glauben, dass Du jemanden verstehen kannst, nur weil Du in seine Augen siehst. Jedoch in jenem Augenblick geschah genau das. Ich sah, wie sie zu dem wurde, was sie nun war: Eine verlorene, eine gebrochene Seele. Ich verstand ihr Schluchzen. Hatte niemand für sie Gefühle? Wollte niemand sie nur einmal in den Arm nehmen, sie drücken und sagen...

„Hallo“. Ich war mir nicht gleich bewusst, dass ich zu ihr sprach. Wenn nur ein Wort, so doch eines, dass sie erreichte. Sie sah mich noch eindringlicher an. Ihre Augen fixierten die meinen. Da gab es kein Entrinnen!

Während um uns herum der Verkehr tobte, Kinder ihre Mami nach Eis oder Schokolade anbetteln, während die Bettler in der Hitze in ihrem Schweiß badeten und die Welt einfach weiter stürmte, befanden wir uns in einer seltsamen Leere. In dieser Leere ließ ich den Block fallen und sie sah das Bild. Sie versuchte zu verstehen, was das alles bedeutete und ich, konnte nur in ihre Augen starren. Ich verstand, was mich in dieser Welt erwartete. Ich begriff, wie es sein konnte, dass Menschen einander hassten. In meiner Welt war mir so was kaum begegnet, in ihrer war es Alltag.

„Bin das ich?“, wisperte sie.

Ich schluckte und nickte. Sie beugte sich herab und nahm es in die Hand. Sie leckte sich über die Lippen, biss sanft zu und weinte wieder. Jedoch dieses Mal war es ein anderes Weinen. Sie hatte einen Augenblick in meine Welt geschaut.

„Darf…“ Sie schluckte wieder. „Darf ich… es behalten?“

Ich konnte abermals nur nicken.

„Der letzte Bus ist meiner“, erklärte sie und ich glaube sie lächelte. Doch die Augen, sie waren verloren, hatten zu lange die Dunkelheit ihres Alltags ertragen müssen, konnten die Sonne und den Sommer nicht vertragen, nicht erkennen.

Mein Bus kam. Als die Türen aufzischten, ich mich erhob, betrachtete sie mich und ich setzte mich wieder. In ihren Augen sah ich die Bitte geschrieben: „Bleib da… nur einmal soll jemand für mich Zeit haben…“

Die Türen fielen zu, der Bus dröhnte vorbei und fädelte sich in den Verkehr. Die Sonne kam hinter den Häusern soweit hervor, so schien es, um uns all die Wärme zu schenken, die das Mädchen nie empfunden hatte.

Ich sagte: „Wohin geht es denn?“

Sie reagierte nicht. Ich wollte sie nicht weinen sehen und sprach einfach drauf los: „Ich bin ziemlich aufgeregt. Wissen Sie, morgen ist mein erster Tag an der Uni. Ein neues Leben sagt man, aber ich weiß nicht, ob ich ein neues Leben brauche.“

Ein anderes Mal wäre mir dies peinlich gewesen. Jetzt jedoch hatte ich das Gefühl jemand verstand mich. Sicher, meine Familie verstand mich auch, aber in dieser Stunde war es jemand, der schon gesehen hatte, was dort in der fremden Welt auf mich wartete. Zumindest erschien es mir so, dass sie mehr sah, als meine Mutter, mein Vater oder meine Schwester. In unserem Leben war alles so normal, so geordnet. In ihrem gab es nur zerrissene Lebensabschnitte, die wie Blätter vom Baum des Lebens herab regneten.

So verging einige Zeit, in der wir einander Blicke schenkten. Sie lächelte nie richtig, nicht mit voller Kraft. Ihr Leben ist eine Fackel am erlöschen, dachte ich.

Dann kam ihr Bus. Es war der letzte an diesem Tag und die Sonne begann den Westen mit glühendem Rot zu verzieren. Der Motor brummte und als die Tür aufzischte, sah ich, wie sie wieder weinte.

Sie nahm das Bild, drückte es an ihre Brust und zwang sich mit einem Ruck aufzustehen. Ihre Haare wehten im lauen Sommerwind, der vom kommenden Gewitter kündete.

Ich sah ihr nach, wie sie die drei Stufen hinauf stieg. Als die Tür hinter ihr sich zusammen faltete und sie in dem Fenster so klein wirkte, glitzerten Tränen in meinen Augen. Sie sah sich einmal um und versuchte zu lächeln. Jedoch schaffte sie es nicht.

Dann war der Bus fort.

Ich saß noch eine Weile dort und ging schließlich nach Hause. Meine Eltern sagten, sie hätten auf mich gewartet. Sie meinten, sie waren sich sicher, ich würde es heute noch nicht schaffen. Als sie meine Tränen sahen, dachten sie, es wären die Angsttränen vorm Verlassen des Elternhauses. Doch das war es nicht.

Am nächsten Morgen, als ich den Wagen heraus fahren wollte, um Alles für meine Fahrt zur Uni vorzubereiten, sah ich die Zeitung auf den Stufen zum Haus. JUNGES MÄDCHEN SPRINGT IN DEN TOD, las ich. Ich riss die Zeitung an mich, stapfte in die Garage, knallte die Tür zu und fuhr den Wagen raus. Dann las ich den Artikel.

Sekunden später rauschte ich die Straßen entlang zu jener Brücke, mehr als 100 Meilen entfernt. Ich wollte sehen, wo sie in den Tod gesprungen war. Warum, kann ich nicht sagen. Ich konnte es nicht glauben, aber ich wusste, dass es so war, wie ich gelesen hatte.

Die Brücke war so nichts sagend, wie mein Leben mir nun erschien. Ich sah nichts, was mir sagte, dass sie hier ihren Frieden gefunden hatte, bis… An einem der Rosenbüsche, die den Hang hinauf wuchsen, hatte sich ein Blatt verfangen. Der Wind riss daran, immer wieder bis ich es aus dem Dornenmeer fischte. Es war meine Zeichnung. Darunter stand: „Danke.“ Mehr nicht, aber es bedeutete mehr, als dass ich es hier sagen kann. Meine Uniträume wurden nie Wirklichkeit, nur meine Zeichnungen. Ich steckte das Bild ein und sah in den Sommerhimmel.

THE CAMERA


Hanging out on the street with a face full of tears, she held the package. She was standing in the rain, on a stormy Monday, in a world full pain. She was a guardian, but there was nothing she could protect, nobody she could care for. She was alone with her tears, and as she opened the package, she overcame the fears, the memories, and those glimpses of a hateful past. She had nothing to lose, so she took out the camera and began to walk along the buildings, took glimpses of lives, to see what was left.

The first one was an innocent child, hiding in the dark. She saw the lonely eyes and as she stepped closer, she could not take her eyes of the broken body. There were scars all over the child, bruises and blood and all that little boy could say, was “Please, not again...” She shot the picture, and as she did, she felt the pain. She understood what was happening to the boy, every day all this pain. His dad was beating him, because he was a child, His friends were chasing him, because he was the child of a poor family, the loser, the punching ball for everyone. With the picture in the camera, the boy began to become what I a child should be. He was smiling, maybe for the first time. But she felt still the pain and as he ran away, he was free and she had lost another life.

But the journey wasn’t over. She struggled to go on. Why all this pain? There was a letter, which she hadn’t cared for to read. She sat down on a bench at a bus top, shielded from the rain. Dear my guardian angel. As I call for you, it’s not for me, it’s for the others. I have no pleasure to live in this world anymore. But I want you to take my camera and do my work. Walk along the street, into the ghettos and see what I saw day for day. Than tell me, where is God and what is an Angel, if there is no hope, only pain? I DON’T BELIEVE IN ANYTHING ANYMORE!

That was all. If she still had some tears, she wept now, from the bottom of her heart. What life must that be? Beaten as a child with no hope, no sunshine, only darkness and fear.

The street was lonely, only the clouds, which spat rain. Angels were no more guardians; they were lost, as humans. There was no chance, to help, when madness ruled the world. But this last will she had to accept it.

So she stood up and walked on. Later she found a dog, shot, blood mixed with rain. His eyes were lonely. She sat at his side, stroke his wet fur, tried to comfort him. He seemed to find peace, if there was such a state for a dog. As his last moment came, she took a shot. It was his eyes, which were digging at her heart. Again there was pain, like she had seen with the boy. But this time, there was also hate.

And now she felt hate. She was running now. At the corner, there was standing an old man. He was calling her: “Lady, just a penny, for an old guy like me.” She stopped, she took the camera out, shot him, felt the spit in her face, like he had felt, craved for alcohol, like he was doing now and understood, you could try to drown in yourself, if you were alone and all were hating you.

She gave him what she had. And she was glad, because he lived, he smiled. Even as she knew, he would just get more whiskey and beer to drown what was left and some days later he would begging again.

Still the anger was rising in her. She now just ran and shot, picture for picture. A girl, she was beaten and abused? Why, nobody cared, is no question, just a fact. An old woman, she just was ill, but nobody was helping her to get better. A black guy with a shotgun and a white boy with a pistol, just some shooting, nothing new, just realism, you know!

Always just pain, just hate! People, we hate, we are the haters, not the believers.

As she was taking a break, catching some breath, she took a glimpse of a TV in a television and video shop. There was again only pain, only realism. Blood was thicker than water, but it seemed, the world was flowing in blood not on water.

The last shot was the one of herself. She was standing on a hill, looking down on the big city, on the world of sorrow. And as she took the shot, she was dying, because of all our pain and sorrow.

On this hill, the Hill of the Fallen Angel, there is still the package. Tonight is another night, another chance to take some shots. But who likes to see always the same again and again?

THE GUITARMAN

You see him on the street, his long hair, his black jeans, the boots and everything seems to say: "I have seen the devil, trust me on this." I can't do anything about it, as I follow his music, his gentle guitar music, that sweeps around my heart. I see him in the motel, every night on the road, see him playing alone in the room, where faces have been. Where people maybe thought about love, about suicide, where was cut the last line fo life in a cheap bathroom, dying thoughts and letters with words, so cruel. He was singing them now.

But what do I know, haven't been on the road for a while. I'm a stranger in a strange land, he sings and I want to follow him there to this land, he sings about.

The fingers are crawling over the throut of the guitar, like spiders, fast, as he let the instrument cry. I knew, he was going to die, he wanted it so bad and I just could stand there, weep, as he was telling his story. It was full of miracles, full of dreams, where all was somehow so grotesque, that you hoped, there wouldn't just gleam the truth, the one, that you couldn't deny!

"In my arms was just the fate, a cruel thing, that stabbed me in the back, as I was lying there on the bed, seeing the faces of my sisters, which died long ago." His words, so soft, like the last breath he was describing. To that he let the melody hessitate, trying to flow into a darker mood. I had no choice, as to listen until the end.

"Rain was knocking at the window, my heart was crying, as I saw this guitar. I looked at the blackness of the instrument and than I just grabbed it, drew it to my heart and started to play. I have seen the devil in that night, but I wasn't afraid. He told me about a deal, I just had made. Playing forever, or dying in an instant. But I couldn't stop playing and so I became the guitar man."

It was fascinating. His lyrcis where no lyrics at all. It was a story and he sung it, to the whisper of the guitar, to every note that was bleeding into the late day. As the sun was going down, I knew, he was insane. But does this mean, he was telling lies?

His eyes where so black, like opals, but he was seeing me, as I stood there. He looked at me, and it was like a mirror, a picture of myself, what I wanted to be, what I had to become, to save my life. I knew, that I was destined for palying this guitar, for becoming a legend of my own. I whispered: "Let me play that damn thing." He laughed, and the solo he played to this sounded like broken glass. It was disgusting, it was like thousand gods and demons where making fun of me. But I was earnest, I wanted to be a giutar slayer, I knew it now.

And now you see me standing there, playing on and on. Every day, every night, telling you this story. Do you hear me? I was the one, I'm telling about, I'm singing about and you will be the next. I knew it as you came closer, as the sound was drawing you near to me. Just one solo, and than you will play, right?

-the end-

EIN PAKET VOLL TRÄNEN


Der Regen, ein Segen für das Herz des Gefallenen, des Geschundenen. Wie erfrischend, wie lebendig, das was man nicht mehr fühlt, was sie aus einem gerissen haben, mit all ihrer Macht, all dem Hass. Tropfen für Tropfen auf der zerrissenen Haut, Träne um Träne dringt aus dem Körper, aus der Seele des kleinen Kindes, das dort inmitten der hohen Wolkenkratzer im Schatten des metropolen Wahnsinns steht. Der schwarze Haarschopf, ein Stecknadelkopf in dieser Welt, doch in jener Nacht, wusste dieses Kind mehr, als die genialen Erfinder, als die Technokraten, als Wirtschaftsbosse und Politiker. Es konnte nur dort weinen, aber genau das war der Grund, warum ein Mensch ein Mensch war, er fühlt.

Verloren in der Zeit des Hasses und der Wut. Getrieben von der Angst, hatte es diesen letzten Schritt gewagt, war in die Menge gerannt, gegen den Strom. An einem Sommertag, der nun so vergessen schien. Die große Kirchuhr hatte gerade zwölf geschlagen und als die Messe begann, all die schwarzen Seelen sich dort versammelten, kam der kleine Junge wie aus dem nichts. Tränen auf den Wangen, Schreie tief aus der Brust, klagte er sie alle an. Es ging zum Priester und spuckte vor die Füße. Das war für die Lüge, dass Gott sich um seine Mutter kümmerte. Den Kerzenständer riss der Kleine mit einer inneren Wut um, dass die Flamen im Bruchteileiner Sekunde verloschen, wie seine Hoffnung an diesem Morgen im Krankenhaus. Sie war gegangen, sie hatte ihn verlassen und dennoch war die Wahrheit viel schrecklicher. Man hatte sie ihm genommen, seine Mutter. Vater war ein Trinker, ein dreckiger Schmierenfink, der Tag für Tag hinter der Schreibmaschine Worte hineinhämmerte, deren er Lügen strafte.

Seine Kindergärtnerin war auch unter den Versammelten. Wie brav sie hierher kamen, um zu beten. Welche Angst in ihren Gesichtern, als er schrie: „Lügner. Ihr lügt, lügt, LÜGT!“ Es half nicht den Schmerz zu lindern, aber die Wahrheit war nicht etwas das zu heilen vermochte. Die Wahrheit war das Messer, das die Wunden nur umso mehr aufbrach, das Blut zum Vorschein brachte.

Der Priester erlangte als erstes die Fassung wieder. „Was ist, Marcus?“ Der kleine Junge, dessen Haar in alle Richtungen stand, dessen weißes Hemd aus der Hose gerutscht war, der noch immer nicht die Schuhe gut genug binden konnte, dass nicht wieder die Schnürsenkel aufgingen, wischte die Tränen aus dem Gesicht und sah ihn fragend an.

„Ihr habt mir meine Mutter genommen! Ihr alle!“ Waren das wirklich seine Worte. Erfühlte sich so hilflos, so getrieben. War das die Macht Gottes, von der sie alle Sprachen. Nachts die Schwester, damit er einschlief. Sie hatte ihm durch sein Haar gestrichen, hatte ihn bewundert, dafür dass er Wache hielt am Bett seiner sterbenden Mutter. Die Tränen hatte er damals versucht zu verstecken. Mit der Strickjacke hatte er sie aus dem Gesicht gewischt. Am nächsten Morgen, während er vor Müdigkeit doch eingeschlafen war, erwachte er und sah das Kreidegesicht seiner Mutter und wusste, sie war fort. Auf dem Nachttisch lag das Paket. Es war ein weißer Karton, schlicht und leblos. Ein Zettel lag dort. Für Marcus, las er angestrengt, als die Tränen ihn überwältigten. Als die Tür aufging, die Schwester reinkommen wollte, sprang er vom Stuhl, und warf sich mit aller Kraft gegen die Tür. „NEIN!“, schrie er. Und sie verstand. Durch die Tür hörte er sie sagen: “Ein wenig Zeit ist noch. Ich warte, Marcus.“

In der Kirche jetzt hielt er das Päckchen hoch. Er hielt es wie eine Trophäe hoch über den Kopf. „Hier sind Eure Lügen, hier ist die Wahrheit?“ Die Kindergärtnerin sah ihn bestürzt an. Der Priester schüttelte mit dem Kopf. „Ach Kind, es muss schrecklich sein.“

Marcus sprang auf den Pult, schaffte es irgendwie das Paket nicht fallen zu lassen und nahm den Deckel ab. Diesen warf er wie ein Zauberer in die Menge. Die Menschen, ihre Augen klebten an ihm. Für Sekunden konnte er ihre Angst spüren, konnte er verstehen, warum sie ihn belogen hatten. Warum die Kindergärtnerin ihn sagte, alles würde gut, während sein Vater zu Hause immer vor der Schreibmaschine hockte und seine Mutter im Krankenhaus in dem Zimmer auf der Intensivstation lag und mit dem Tod kämpfte.

War es wirklich einfach zu sagen, es wird alles besser, wenn man genau weiß, der Krebs nimmt was er einmal gefangen hat. War es einfacher auf der Schreibmaschine die Trauer in die Tasten zu hacken, sich zu besaufen Tag für Tag, wenn ein kleiner Junge den Vater viel mehr brauchte?

„Dieses Packet ist von meiner Mutter. Es ist ihre Antwort auf all die Fragen, die in uns brennen. Meine Mutter hat mich lieb, auch wenn Gott sie nicht liebte. Er liebt keine Menschen, die nicht in die Kirche gehen, wie ihr sagtet Pater!“

„Aber..“, protestierte der Priester. Die Augen waren groß wie Monde, als er begriff, was es hieß Worte zu sprechen, deren Bedeutung nicht nur für Psalme gedacht sind.

Das erste Foto zeigte eben diesen Priester, wie er Marcus Mutter küsste. Er hatte es schon so oft an diesem Tag betrachtet und er verstand es nicht. Er warf es vor die Füße des Priesters. Dieser hob es mit zitternden Händen auf. Die Anderen verrenkten ihre Köpfe um zu sehen, was das Bild zeigte.

„Wieso?“, wollte Marcus wissen. „Es ist nicht so wie du denkst, Marcus...“, war alles was der Priester sagen konnte. Die Tränen die Marcus geweint hatte klebten auf dem Foto und als der Priester dessen gewahr wurde, erblasste er. Er kniete nieder und begann zu beten, aber es half nichts... Marcus würde nicht verzeihen, auch er hatte seine Mutter auf dem Gewissen.

Sein Vater rief plötzlich aus der Menge: “Marcus! Was machst du da? Komm sofort her?“ Doch Marcus holte ein neues Foto aus dem Paket der Tränen, seiner Tränen. Es zeigte wie sein Vater seine Mutter schlug. Es war zu sehen, wie sie den Schmerz versuchte zu ertragen. Die Weinflasche auf dem Tisch, man konnte sogar das Etikett noch erkennen. Er warf es zu ihm.

Seiner Kindergärtnerin warf er ein Foto zu, auf dem sie ihn züchtigte. Sie zog ihm am Ohr, und man sah noch die Handabdrucke auf seiner Wange.

Dann schüttete er das Paket aus, warf es in die Menge, sprang vom Pulk und rannte zu dem großen Tor hinaus in den Regen. Der Sommertag hatte sich verabschiedet, war zu einem Herbstregen ohne Hoffnung geworden. Seine Füße sprangen von Pfütze zu Pfütze. „Mutter, Mutter!“ schrie er in den Regen.

Nun hier auf der Kreuzung, in der Nacht, umringt von den Hochhäusern dieser Stadt, seinem zu Hause, kann er nicht mehr weinen. Er versteht, das Leben ist ein Kampf. Seine Mutter hatte ihn Tag um Tag ausgehalten, hatte versucht ihm ein zu Hause zu geben. Aber all die Menschen um ihn und sie herum, all sie hassten Glück, weil sie selbst es niemals spüren konnten. Der Priester hatte sie gehasst, weil er niemals eine Frau hatte lieben können und nicht verstand, warum eine Frau das Leben liebt, ohne Gott zu lieben. Sein Vater wusste nichts als Worte, die er selbst nicht verstand und wenn e sich nicht ausdrücken konnte, wenn er dem nachtrauerte, was er war und werden wollte, nahm er den Alkohol und dann wurde er einfach aggressiv. Das ist der Lauf der Dinge, wenn man verliert, wofür man jeden Tag aufstehen möchte. Doch Marcus, so wurde ihm klar, war frei. Er war voller Tränen, die aus Liebe geboren waren. Er hatte noch die Kamera, die auch auf dem Nachttisch stand. Er würde sich auf die Suche machen, nach neuen Fotos. Fotos, die Menschen zeigten, die glücklich waren und vielleicht, wurde auch er so glücklich werden. Vielleicht würde er mit diesen Bildern, seine Mutter wiederfinden, die Erinnerung an ihre Umarmung.

DIE KAMERA


Dort auf der Straße stand sie mit einem Gesicht voller Tränen und hielt das Paket. Sie stand im Regen, an einem stürmischen Montag in einer Welt voller Leid. Sie war eine Wächterin, aber es gab nichts, das sie beschützen konnte, niemand um den sie sich sorgen konnte. Sie war allein mit ihren Tränen und als sie das Paket öffnete, überkam sie ihre Ängste, diese Erinnerungen, solch Augenblicke ihrer verdammten Vergangenheit. Sie hatte nichts zu verlieren. Also nahm sie die Kamera und begann die Straße, zwischen den Häusern entlang zu wandern und erhaschte Blicke in anderer Leben, um zu sehen, was noch übrig war in dieser Welt.

Der erste, dem sie begegnete war ein unschuldiges Kind, das sich in der Dunkelheit zu verstecken suchte. Sie sah die einsamen Augen, und als sie näher kam, konnte sie ihre Blicke nicht von dem zerschundenen Körper abwenden. Überall Narben, die das Kind entstellten, Prellungen und Blut und alles, was der Junge sagen konnte war: „Bitte! Nicht schon wieder!“

Sie schoss das Bild. Im gleichen Augenblick spürte sie die Tränen, den Schmerz und unsagbare Angst, vergraben im Herzen des Kindes. Sein Vater schlug ihm, weil er ein Kind war, seine Klassenkameraden jagten ihn, weil er das Kind einer armen Familie war, der Verlierer, der Boxsack für Jeden. Doch sie spürte diesen Schmerz, auch als er davon rannte, so gut er das denn konnte. Er war nun frei und sie hatte ein weiteres Leben verloren.

Aber die Reise war nicht zu Ende. Sie wollte nicht weitergehen. Wieso all dieser Schmerz? Da war ein Brief, den sie vorher einfach nicht beachtetet hatte. Er war bei dem Paket gelegen. Nun setzte sie sich auf eine Bank an einer Bushaltestelle, die sie vor dem unablässigen Hämmern des Regens schützte.

Lieber wachender Engel. Nun da ich nach dir rufe, ist es nicht für mich, sondern für Andere. Ich habe keine Lust mehr auf ein Leben in dieser Welt. Aber ich will, dass Du meine Kamera nimmst und meine Arbeit machst. Lauf die Straße entlang, hinein in die Gettos und sieh, was ich jeden Tag ertrug. Dann erklär mir, wo ist Gott und was ist ein Engel, wenn es keine Hoffnung mehr gibt, nur noch Schmerz? ICH GLAUBE AN NICHTS UND NIEMAND, NIE WIEDER!

Das war alles. Wenn sie noch Tränen in sich hatte, so weinte sie nun, aus der Tiefe ihres Herzens hinaus. Was für ein Leben musste das sein? Geschlagen als Kind, ohne Hoffnung, kein Sonnenschein, nur Dunkelheit und Angst.

Die Straße war verlassen. Da waren nur die Wolken, die Regen spuckten. Engel waren keine Beschützer mehr, sie waren verloren, wie die Menschen. Es gab keine Chance, keine Hilfe, wenn Wahnsinn die Welt regierte. Aber sie musste diesen letzten Willen akzeptieren.

So stand sie auf und schritt weiter. Später fand sie einen Hund, erschossen. Blut im Regen, seine Augen waren so voll Einsamkeit. Sie setzte sich zu ihm, strich durch sein nasses Fell, versuchte ihm einen Bruchteil der Liebe zu geben, die er nie erfahren hatte. Er schien Frieden zu finden, wenn es solch ein Gefühl für einen Hund überhaupt gab. Als der letzte Moment kam, schoss sie das Foto. Es waren seine Augen, die an ihrem Herz zerrten. Wieder dieser Schmerz, wie sie ihn mit dem Jungen erfahren hatte. Aber dieses Mal war da auch Hass.

Und nun fühlte sie diese Wut. Sie rannte. An der Ecke stand ein alter Mann. Er rief nach ihr. „Lady, nur einen Penny für einen alten Mann, wie mich!“ Sie hielt inne, nahm die Kamera, erschoss ihn mit begleitet vom Blitzlicht. Im gleichen Moment spürte sie die Spucke im Gesicht, wie er sie abbekommen hatte. Sie sehnte sich nach Alkohol, wie er es tat und verstand, wie es kam, dass man sich selbst im Suff ertrinken wollte

Sie gab ihm was sie hatte, war glücklich, weil er lebte und nun lächelte. Obwohl sie wusste, er würde sich nur noch mehr Whiskey und Beer ertränken und Tage später erneut um einen Tropfen betteln.

Noch immer flammte die Wut in ihr. Sie hetzte nur weiter und machte Foto für Foto, schoss wie aus einem Maschinengewehr. Ein Mädchen, sie war vergewaltigt und geschlagen worden. Wieso? Aber es interessierte Niemanden, es gibt keine Fragen, nur die Wahrheit. Eine alte Frau, sie war einfach krank, aber niemand kümmerte sich um sie. Ein schwarzer Junge mit einer Flinte und ein weißer mit einer Pistole, nur ein bisschen Schießerei für die Abendnachrichten, nichts Neues, nur Realismus, verstehst Du?

Immer nur Schmerz und Hass. Leute, wir hassen, wir sind die Hasser, nicht die Gläubigen!

Als sie fast zusammenbrach, nach einer Pause sich sehnte, Atem holte, sah sie aus den Augenwinkeln einen Fernseher in einem Elektro- und Video-Shop an der Straße. Nur die Wahrheit war zu sehen, nur der Krieg. Blut ist dicker als Wasser, aber es schien, die Welt zerfloss im Blut.

Der letzte Schuss war für sie selbst. Sie stand auf einem Berg, sah hinab in die große Stadt, in eine Welt aus Sorgen und Leid. Als sie das letzte Bild knipste, starb sie, erstochen vom Schmerz und Leid.

Auf diesem Berg, dem Berg des gefallenen Engels liegt noch immer das Paket. Heute nacht ist eine neue Nacht, eine neue Gelegenheit Bilder zu machen. Aber wer mag das Gleiche wieder und wieder sehen?

FLASCHENPOST


Im Geflüster des Windes schwangen Stimmen, deren Gezeter mit dem Rauschen des Meeres verschmolz. Das kleine Boot wogte auf und ab zum Wellengang, dessen Farben in allen Blau- und Grautönen spielten. Doch sehen konnte man nur die gebeugte Gestalt, ihre Silhouette, die sich gegen den roten Ball der untergehenden Sonne erhob. Dies geschah nun Tag um Tag, wenn die Dämmerung sich über das Land schob, wie ein samtener Vorhang. Die Küste selbst erstrahlte in all ihrer Vielfalt, das Meer jedoch Boot nur immer das gleiche Trauerspiel. Das Boot wippte im Rhythmus von Ebbe und Flut, folgte jeder Bewegung, schmiegte sich an das Wasser und tanzte. Die Gestalt jedoch begann dieses Mal nicht dem Ritual der vorangegangen Tage und Wochen zu folgen.

Im Boot sprang sie hin und her, tanzte Wild, den Kopf erhoben, die Haare ein flatterndes Banner im Wind, während das Feuer der versinkenden Sonne vom Salzwasser verwischt wurde, bis die ersten blauen Töne am Horizont den Beginn der Nacht abzeichneten. Es war ein sonderbarer Tanz, voller ekstatischer Bewegungen und dennoch irgendwie erlahmend, sterbend.

Dieses Mal warf die seltsame Figur die Flasche weiter als sonst und die Wellen trugen sie davon. Vielleicht würde die Botschaft einen Leser finden, würde der gläserne Briefumschlag irgendwo im Sand einer Küste im Sonnenaufgang eines neuen Morgens glitzern, -ein gestrandetes Boot voller Hoffnung.

Die Worte würden den Leser gefangen nehmen, ihn verzaubern und dennoch keine Bedeutung haben. Ein Gedicht vielleicht, eine Bekehrung, eine Bitte; all das interessierte nicht. Es ging vielmehr um den Leser, er würde seinen Zweck erfüllen...

Doch bisher hatte die Flasche Niemanden erreicht. So walzte auch in jener Nacht der Geist in seinem Boot, tanzte und jauchzte, tanzte und sang sein verlorenes Lied, das von Liebe sowie seinem Schicksal berichtete. In jener Nacht, als der erste Sturm des neuen Jahrhunderts heran brandete, wippte der Geist wild in seinem Boot, doch die Wellen rissen ihn nicht davon, ließen das Boot nicht zerschellen.

Die Sonne war versunken, überließ die Welt der Nacht und mit den ersten Stunden der Dunkelheit kam die Gewalt der Gezeiten. Die Wellen türmten, der Wind zischte und von Norden her grollte Donner vom Sturm kündend. Die Flasche glitt wie eine gläserne Walze über die Wellen, wurde von links nach rechts geschleudert, doch nicht zur Küste hin, wo das Festland im dunklen Grau dräute. In ihr der Brief, Zeilen so schmerzvoll, Erfahrungen der Jahrhunderte, Zauberspruch eines Geächteten.

Augenblicke später umschlangen die Wellen das Boot, doch die Gestalt tanzte noch immer zu den nicht hörbaren Melodien. Die Bewegungen erlahmten nicht, wurden aber weicher, langsamer und bildeten einen unnatürlichen Kontrapunkt zum Getose des Sturms. Noch gab es Hoffnung. Die Küste war in Sicht, auch wenn der Sturm das Boot hinaus zu treiben schien, es ruckte und wackelte jedoch nicht unweit jener Stelle, da die Wellen noch weich und zärtlich es getragen hatten. Der Geist war gefangen, es gab kein Entrinnen! Das Boot nur ein Werkzeug eines dunklen Zaubers, eine Ausprägung des Fluchs, dessen Bann keiner zu brechen vermochte.



In jener Nacht jedoch fand die Flasche ihren Leser. Während im Osten am anderen Ende des Meeres der Geist im Sturm ziellos hin und her gepeitscht wurde, er all seinen Schmerz heraus schrie und dennoch nur vom Heulen des Windes verschluckt wurde, nahm das kleine Mädchen die Flasche aus dem Sand. Ihre großen Augen betrachteten den Fund mit Begeisterung.

Die Tränen in ihren Augen glänzten im Sonnenschein der aufgehenden Sonne. Das Nachtkleid wehte im leichten Wind. Der Korken saß fest und sie zog mit all ihrer Kraft dran, aber nichts war zu machen. Sie plumpste in den Sand. Ihre Augen suchten das weite Meer ab. Von dort draußen hatte jemand einen Brief geschrieben, dachte sie. Vielleicht auch jemand, der so allein ist wie ich, hoffte sie.

Doch zuerst musste sie die Flasche öffnen. Sie suchte den Strand ab, nach einem Stein. Es war schon komisch. Wie oft stieß man sich an den harten Brocken und nun, keiner weit und breit. Dann hörte sie die herrische Stimme ihres Vaters und rannte einfach davon. Die Füße trugen sie über den angewärmten Sand, die Flasche fest gekrampft, floh sie.

Sie rannte und rannte. Ihr Herz schlug im befreienden Rhythmus, ihr Atem so voller Kraft und die Flasche schien ihr wieder Hoffnung zu geben, irgendwie. Vielleicht musste sie nicht mehr in den Wohnwagen zurück, wo die Dunkelheit herrschte. Dort warteten nur Schmerz und Trauer. Mutter war nicht mehr bei Ihnen und seit dem hatte sich alles geändert. Ihr kleines, junges Leben war im dunklen Schacht des Hasses und der Wut eines Mannes verschwunden, der schon zu den Lebzeiten ihrer Mutter nur Unglück über die Familie gebracht hatte. Aber Mutter war nicht stark genug gewesen, sie beide zu retten. Und so war es nur noch sie, die den Wutausbrüchen ihres Vaters nicht entrinnen konnte.

Sie erreichte die Parkplätze, aber hier war kein Auto weit und breit. Ihr Vater suchte immer solche Plätze aus, die so einsam waren. Aber hier lebte sie nun schon einen Monat und kannte die Gegend gut. Sie huschte die kleine Treppe hoch, doch dann rutschte sie irgendwie ab und die Flasche glitt ihr aus den Händen. Laut zerbarst sie und das Glas flog in alle Richtungen. Es war, als ob ihr Herz für einen Moment stehen blieb. Doch dann lächelte sie. Das Papier rutschte über den Asphalt. Schnell griff sie danach. Es war schon leicht gelblich und weiß Gott wie alt. Sie faltete es auf und versuchte zu entziffern was die Buchstaben ihr sagen wollten.



In dem Augenblick, da das Glas zerschellte, begann der Sturm am anderen Ende dieser Welt den Geist empor zu tragen mit seinem Boot. Von Welle zu Welle. Er tanzte voller Begeisterung und begann hinauf in die Nacht zu schweben. Er war frei. Das Boot jedoch begann eine lange Reise. Hunderte von Kilometer wurde es getragen, an Delphinschwärmen vorbei. Der Fluch war gebannt.



Die kleine Lisa hatte es sich in ihrem Ausguck gemütlich gemacht, das Blatt in ihren Händen. Zwischen dem Säuseln der Blätter ihre junge, glückliche Stimme, als sie versuchte die Worte zu enträtseln.

Diese Zeilen sind für Dich,
Ich bin der Geist, verbannt in die Ewigkeit,
Wie es scheint, so lange, so ewig,
Dieses Gedicht ist für Dich.

Wenn die Sonne scheint,
Die Wolken so fern irgendwo auf dieser Welt,
weit weg,
Siehst Du nicht das dunkle Schwarz der Nacht,
Aber glaub mir, kleines,
gib Acht!

Ich sah die Nacht nicht kommen
und dann kam der Sturm,
der mir alles hat genommen.

Mein Engel, ich vermisse Dich!
Lass mich nicht im Stich!
Mach dich auf die Reise, in dem kleinen Boot,
Finde mich oder etwas, das Glück mit sich bringt!

Meine Liebe ist ewig,
Auch wenn der Schmerz mich ertränkt.
Ich war ein Pirat,
Du meine Prinzessin,
Ich werde dich nie vergessen!

Lisa weinte. Jemand schien gefangen zu sein, wie sie und jetzt? War er befreit? Hatte sie ihn befreit, wie in den Märchen? Wann kam jemand und befreite sie?

Dann hörte sie wieder die harte Stimme ihrer dunklen Realität: "Komm sofort darunter, Lisa!"

Es war ihr Vater. Er war wütend, wie immer und sie steckte den Brief schnell in die Tasche ihres Nachtkleides. Dann kam sie runter, zaghaft und vorsichtig. Doch er drehte sich weg von ihr und lief schnellen Schrittes in die Richtung ihres Wohnwagens. Als sie nicht folgte, drehte er sich um.

"Komm!", rief er nur.

Sie folgte. Ihre Augen glitten übers Meer als sie einen kleinen Punkt ausmachte. Doch die Sonne ließ die Weite des Meeres in allen Farben leuchten und sie glaubte, sie täuschte sich. Da war nix. Wo immer ihr Geist auch war, er war nicht bei ihr, dachte sie traurig.


Am Abend gab es Spaghetti. Sie liebte es, wenn die Nudeln zwischen den Zähnen entlang huschten und wenn ihr leidiger Vater nichts konnte, so gehörte dazu aber nicht das Kochen. Er wollte sie glücklich machen also gab es wieder etwas was er von ihr wollte. Womöglich ein neuer Versuch sie dazu zu überreden in die Schule zu gehen. Seit einigen Tagen hatte er wieder Arbeit. Und eine Frau. Sie war nicht das was sie eine Mutter nannte. Es war eher ein Püppchen. Auch wenn Lisa mit neun Jahren nicht alles verstand, was zwischen Mann und Frau passierte, ein Püppchen erkannte sie dennoch. Wenigstens schiene er bessere Laune zu haben.

Doch dann klopfte es an der Tür. Also deswegen das gute Essen! Das Püppchen in den hohen Stiefeletten, dem viel zu kurzen Rock und dem aufdringlichen Parfüm stürzte ihrem Vater in die Arme. Da nutzte sie die Gelegenheit und sprang vom Tisch, dass der Stuhl nach hinten fiel. Doch sie kümmerte sich nicht darum und flüchtete aus dem Wohnwagen. Das glückliche Paar lag sich in den Armen und küsste sich. Niemand schien ihr Verschwinden irgendwie zu bewerten oder gar zu bemerken.

Sie rannte wieder. Der Brief in ihrer Hand. Sie hielt ihn hoch in die Luft, ließ das Papier wehen im Wind wie eine weiße Fahne. Die Tränen kamen wieder und mit ihr die Erinnerung an ihre Mutter.

Dann sah sie das Boot. Es schaukelte mit den Wellen, direkt am strand, fast dort an der Stelle, wo sie die Flasche gefunden hatte. Weinend sprang sie in das Boot, kuschelte sich auf den Boden und starrte in den Sternenhimmel hinauf. Sie flüsterte die Worte aus dem Gedicht und sah sie da den Geist?

Er lächelte.

Das Meer zog das Boot vom Strand und Lisa war frei.

GUTEN MORGEN, KLEINES SCHULKIND


Regentänzer, Tropfen im Sonnenschein, Gedichte flattern im Wind, doch keiner sieht sie dort hängen. Niemand nimmt Notiz von den gesprungenen Augen, den Spuren von Tränen auf den Wangen, niemand spürt ihre Trauer, sie alle verstehen sie nicht. So war es immer, so wird es bleiben, das wäre schon das Ende dieser Geschichte. Aber ich, der Vogel hier hoch im Baum, ich kann sie sehen, hörte ihren Schmerzenschrei, Tag für Tag auf dem Spielplatz. Sie haben sie nie verstanden, sondern immer nur gejagt. Von Hass und ihrer Andersartigkeit verfolgt, hat sie den letzten Schritt gewagt.

Im Regen höre ich den Blues, aus dem Radio aus Carson’s Garage, wo die Männer Tag für Tag sich betrinken, an ihren Karren schmieren und schrauben. Von hier oben in der Eiche wirkt sie wie eine Vogelscheuche, nur dass um ihren Hals sich die Schnur zuzog, ihr den Atem nahm, sie in den Tode riss.

Dies ist all mein Wissen, Tag für Tag, all die Worte, die nun dort hängen, die niemand zu ihr sagte. Der Grund für ihren Tod, ist im Winde zu suchen, im täglichen Sturm, der ihr sich entgegen schob, ihr jegliches Lächeln aus dem Gesicht wischte und sie sterben ließ. Ich habe versucht zu singen, habe versucht mit den Spatzen sie zum Lachen zu bringen, aber ich bin nur ein Vogel, ich kann das nicht.

Ihre Mutter sieht sie nicht. Sie wagt es nicht. Die Polizei ist da, die blauen Lichter blitzen im Grau des Regentages. Sie nehmen ein Messer und schneiden sie los. Warum hat man sie nicht verstanden? Warum nicht in ihre Augen geblickt, nicht mal nach ihr gesehen, wenn sie dort lag im Rasen, als sie beinahe an ihren Tränen erstickte.

Der Vater ein reicher Mann, großes Cabrio, wandelte im Sonnenschein. Jetzt spielt er den gebrochenen, den zerschundenen Vater. Doch wir Vögel wissen mehr, sehen so vieles, aus den Wipfeln, im Versteck.

Guten Morgen, kleines Schulkind. Ich bin dein Vogel, ich ziehe mit dir, durch die Nacht, mitten im Tag hinauf in die Weite, bin bei dir und singe für dich. All die Jahre hab ich es getan, doch du hörtest mich nicht. Ich hab ein schwarzes Gefieder, das nun mit Blut befleckt auf dem Fenster ruht. Durch das Glas in der Kirche sehe ich dich aufgebahrt. Soviel Zeit ist vergangen seit diesem traurigen Morgen, so scheint es. Ich habe ein neues Nest gefunden, doch einen Begleiter nicht. Ich werde dich vermissen. Du hast mir Brotkrumen gegeben, hast mich gesehen, die anderen nicht. Ich bin dein, mein kleines Herz schlägt für dich.

Ich stoße mit dem Schnabel gegen das Fenster. Wieder und wieder, der Schmerz fährt durch meine Glieder, doch als das Glas zerspringt, flattere ich an den weißen Sarg. Die Menschen sind gegangen. Es ist Zeit Abschied zu nehmen. Deine Augen sind noch immer so leer. Hast du mich nie gesehen? Immer nur darauf gewartet, dass die Anderen dich beachten?

Sie sahen dich, oh ja. Sie sahen deine geschundene Arme, die Narben, das traurige Gesicht und dennoch, sie wollte dich nicht. Qualen sind wie Grenzen, die uns voneinander trennen.

Ich flattere auf und nieder, ich komme immer wieder. Ich bin dein Schutzengel, ich der kleine Spatz, dein einziger Schatz.

Doch dann höre ich den Mann mit dem Gewehr. Höre was er sagt, aber ich will nicht mehr. Das Fenster, es ist so nah, doch in deinen Augen sehe ich noch immer nur Trauer. Die Kugel peitscht durch mich, wie ein Hammerstoß, ich segele hernieder, auf deine Brust. Ich spüre dein Herz, es scheint zu schlagen, aber weiß doch, es ist nur meines. Es stirbt, wie auch du, ich bin bei dir. Mach die Augen zu.

MINDMORPHIX


Gesichter, zu hunderten, verzerrt in den Spiegelglasflächen des riesigen Wolkenkratzers. Sie laufen durch die Gänge, auf der Suche nach etwas, dass sie nicht finden können und manche nennen es Leben. Es ist wie ein Bienenschwarm, wild, in hektischer, dennoch kontrollierter Bewegung. Ein zentrales System tief versteckt in den Köpfen der Menschen. Zwischen ihnen befindet sich auch Noris. In Etage 200, hoch im Himmel, dort ist er zu Hause. Jeden Tag, jede Nacht, sein ganzes Leben, bis zu jenem Tag, als er in dem kleinen Zimmer auf dem Monitor die Zahl 382 blinken sieht und weiß, es ist soweit. Die Verwandlung steht bevor.

Mit seinen schwarzen, opalen Augen betrachtet er die grün leuchtende Ziffer auf dem Bildschirm. „Schließfach 382“ steht dort und er weiß, es ist Zeit. Die Klimaanlage fächert die Luft, ein dünnes Summen, an das er sich gewöhnt hat. Dennoch, alles fühlt sich plötzlich so anders an. Seine Augen füllen sich mit Tränen, als er aus dem Schrank den schon gepackten Koffer holt. Er weiß nicht einmal was sich in ihm befand, denn den hatte man ihm am Tag des Einzuges gegeben. Man wurde beordert hier zu leben, zu lernen und seinen Platz im System zu finden. Mit 18 Jahren begann die Arbeit, auch wenn man nicht wusste, was Arbeit eigentlich war. Davor, war das Leben als Kind und Jugendlicher ein einziger Genuss. Hin und wieder merkte Noris seinen Eltern an, dass sie sich vor etwas fürchteten, etwas das in der Zukunft ihn erwartete. Doch als es dann soweit gewesen war, hatte er die Erinnerung an die Sekunden der eisigen Stille, der Ungewissheit verdrängt.

Noris rückte die Krawatte vor einem der Spiegelfenster zurecht. Seine hagere Gestalt, die schwarzen Haare, alles wirkte so falsch. Das Zimmer, sein Schlafzimmer war völlig in weiß gehalten. Eine karge Version von neuzeitlicher Architektur, die den Menschen verleugnete. Es wirkte wie ein monströser Würfel, aber Noris kannte es nicht anders. Mit den Händen strich er die Haare glatt, sorgte dafür, dass sie die Datenbuchse bedeckten. Diese hatten sie ihm auch am Tag des Einzuges eingesetzt. Es hatte weder wehgetan, noch fühlte man sie. Nichtsdestotrotz, die ersten Tage hatte er sie des Nachts im Spiegelfenster beäugt und sich dafür geschämt.

Er riss den Koffer vom Bett, ging zum Mediatron, dem zentralen Kommunikationssystem, wo noch immer auf dem LCD die Nummer prangte und gab eine Zahlenkombination in das Ziffernpad. Ein bestätigendes Piepen und Millisekunden später wurde eine Chipkarte aus dem Schlitz gefahren, die er entnahm. Mit seinen elektronisch verstärkten Augen konnte er die Daten abtasten. Es waren Wegbeschreibungen um durchs Wirrwarr des Wolkenkratzers zum Schließfach zu kommen.

Einen letzten wehleidigen Blick warf er in das Zimmer. Mehr als 15 Jahre hatte er hier verbracht. Er schüttelte den Kopf.

+++


Es ist wie ein überfülltes Bild, in dem der Vordergrund die Sicht auf das Wesentliche, auf die Geschichte versperrt. Noris versinkt in der Menge im Trubel um ihn herum. Auch hier sind überall die Spiegel, was die klaustrophobische Atmosphäre verstärkt. Menschen, überall und so viele. Das war er nicht gewöhnt, kannte diese Welt nur aus Reportagen, von E-books, Texten, Songs und anderen Medien. Es war fast wie einer dieser Träume, die sie einem einspeisten, damit man es aushielt, so allein in den Zimmern. Auch wenn die künstliche Ordnung des Traumes fehlte, sie durch die Hektik der Wirklichkeit ersetzt wurde, war dieses Gefühl der Winzigkeit dem des Traumes gleich. Dort hatte er in einem Zimmer mit den Anderen an einer Aufgabenstellung gesessen, gerätselt, diskutiert, kommuniziert und dem Beisammensein gefrönt.

Das war hier gar nicht möglich. Frauen und Männer, dicke und schlanke, alte und elektronisch unterstützte Kranke, liefen an ihm vorbei. Der weiße Teppich gab keinen Laut frei und es war wie ein Stummfilm, den man zu schnell abspulte. Ihre Gesichter glichen dem seinen. Die schwarzen Augen, die kurzen Haare. Man unterschied sich nicht, abgesehen vom Geschlecht, ob nun Mann oder Frau. Die Farben waren nicht existent. Es gab nur schwarz oder weiß, an oder aus, lebendig oder nicht existent, 1 oder 0. Es war ein System, dessen Ausmaße einer wie er weder verstand noch dessen Bedeutung erahnte.

In seinem Traum saß er in einem weißen Raum, ganz ohne Spiegel. Die Menschen um ihn herum, auf den Stühlen, sie alle sahen ihn an und sprachen zu ihm und dennoch verstand er sie nicht. Es war weder die Sprache noch ihre Gebärden die ihn in diese Verständnislosigkeit stießen, sondern das Fehlen von Ordnung. Es lag auch nicht daran, dass so viele Farben mit einem Mal existierten. All die Töne und Nuancen, die er im wachen Zustand nicht mehr erleben konnte. Er hatte sich immer eingebildet, dass das Fehlen der Farben mit dem Erwachsenwerden zusammen hing, aber wieso gab es diese dann in den Träumen? Die Betten in denen man in seinem Zimmer lag, waren so etwas wie kleine Projektoren. Man begab sich in eine Art Sarg, der elektronisch verriegelt einen in den Schlaf schickte. Dieser Schlafsarg wiederum hing am System und das System speiste seine Träume.

Im wachen Jetzt jedoch war für solche Erinnerungen keine Zeit. Das Schließfach 382 wartete und die Kommandos, die auf dem Chip zu finden waren, die er gelesen hatte, drängten ihn. Der lange Gang war voller Menschen. Sie strömten förmlich wie eine schwarz-weiße Welle auf ihn ein, und um ihn herum. Niemand sagte ein Wort. Eine synthetische Stille hing über allem. Jeder Schritt war wie eine Sekunde Stillstand, ein Bild, dessen Graustufen jegliches Detail verschwimmen ließen. Noris sah nur die Gesichter, ihre Körper verschwommen, durch die gleichfarbenen, schwarzen Anzüge. Ihre Augen, opalfarben wie die seinen, ihre Lippen kurze Striche der Bedeutungslosigkeit und was ihn entsetzte, das alles machte ihn noch mehr bewusst, wie sehr er versank in einer Welt, die er nicht kannte. Sein Alter, die 34 Jahre, unterschied ihn das irgendwie von den Anderen hier? Doch die Gedanken wurden abgehackt im gleichen Augenblick, da er sie produzierte. Die Implantate in ihm, sie kontrollierten, was er war, zu jeder Sekunde, Minute, Stunde, jeder Zeit.

382, das Schließfach. Das war alles was zählte. Es gab keine Fragen in einer Welt aus Schwarz und Weiß, aus Spiegeln, die nur eine strukturierte Architektur der Sauberkeit wiedergaben. In einem riesigen Komplex, einem enormen Wolkenkratzer, einer Art Brutstätte des kontrollierten Gedankens.

Im Fahrstuhl war er Rücken an Rücken mit den Anderen gequetscht. Er brauchte nicht sagen wohin er wollte, denn es gab für jeden Befehl nur einen Fahrstuhl. All die Menschen hier mit ihm, sie alle suchten ebenfalls ein Schließfach. Sie alle hatten seinen Status erreicht, sie standen vor der Verwandlung.

Gespräche gab es nicht, obschon jeder innerlich schreien wollte. Noirs konnte sich jedoch der Kontrolle genauso wenig entziehen, wie die Anderen. Das System funktionierte. Es folgte der Routine, Abweichungen waren nicht zu erwarten.

Ohne einen Ton schob sich die Tür auf und Noris strömte mit den Anderen in einen neuen, weißen, Spiegel behangenen Gang hinaus. Die Daten des Chips leiteten ihn.

Gedanken, die sein Hirn hinauf schleuderte, innere Aufschreie und wilde Träume, Wünsche und Erinnerungen wurden geblockt. Aber tief in ihm, begann sich etwas in seinem neuralen System zu tun. Die Verwandlung stand bevor. Das was noch in ihm war, das letzte bisschen Mensch, regte sich nun. Nach all den Jahren der Kontrolle.

Die Überwachungskameras konzentrierten sich plötzlich auf ihn. Mit großen Augen beobachtete er, wie die schwarzen Kugeln an den Wänden ihm hinter rollten. Das System war sich seiner nicht mehr sicher, scannte ihn, suchte nach dem menschlichen Teil in ihm, den er fast verloren hatte. Wie hundert kleine Augen zoomten die Kameras an ihn heran. Der Menschenstrom um ihn herum presste weiter und so konnte er nicht anders, als weiter zu laufen, während an den weißen Wänden von allen Seiten neue Überwachungssonden heran rollten. Sie hatte die Größe eines menschlichen Augapfels und das Gefühl des Beobachtens, jenes kalte Eisen, dass plötzlich scheinbar über seinen Körper strich, ließ Noris den Schweiß ausbrechen.

Jemand schlug so hart gegen seinen Arm, das ihm der Koffer entglitt und er zu Boden fiel. Der weiche Teppich schluckte abermals jeden Laut, doch was Noris voller Entsetzen registrierte, war die LED – Anzeige, die nun rote Kanji – Zeichen aufblinken ließ. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte er keine Worte verstehen. Über ihm sammelten sich die Sonden an der Decke wie eine riesige Traube und strahlten Kontrollkommandos an den Empfänger in seinem Hirn.

Aus der Menge heraus schälte sich eine Person. Sie hielt direkt auf Noris zu. Noch immer wurde er mit Kontrollbotschaften bestrahlt. Das rote Kanji blieb jedweder Bedeutung beraubt. Jeglicher Gedanke wurde sofort geblockt und so war Noris gefangen in seinem eigenen Körper. Um ihn Stille, künstlich, kalt, deformierte Realität. Panik stieg in ihm hoch, doch er spürte sie nicht. Alles war still und dennoch lebte er. Nur der Fremde, fast das genaue Spiegelbild seiner selbst, der sich durch die Menge aus Menschen drängte, die noch immer an ihm herum rissen, weil nun Panik herrschte, die ihn dennoch nicht erfasste. Die Menschen stürmten um ihn herum. Angst ebbte durch die Leiber, als die ersten Alarme losheulten und die Gänge innerhalb von Sekunden hermetisch abgeriegelt wurden. Oben an der Decke öffneten sich Schleusen und kleine Sonden segelten herein wie winzige Raumschiffe. Auch sie waren in tiefem Schwarz gehalten, ebenfalls rund und unterschieden sich nur durch blinkende dunkelblaue Sensoren gegenüber den Überwachungsdrohnen. Noris Augen wanderten von einer zur anderen und als er wieder nach dem Fremden in der Menge suchte, blieb fast sein Herz stehen. Mit einem Mal stand er direkt vor ihm. Seine Augen fixierten ihn. Ob sie gleichfalls elektronisch unterstützt waren, konnte man nicht erkennen. Ohne dass sich sein Mund bewegte, ebenfalls ein dunkler Strich, wie es Noris nicht anders kannte, begann er auf Noris einzureden. Irgendwie störte er die Bestrahlungswellen der Überwachungskameras. Es waren weniger Worte die man aussprechen konnte oder zu schreiben wusste. Es war ein Schwall an Gefühlen, Bildern und Geräuschen, die sein Hirn erreichten. Was auch immer sie bedeuteten, sie drangen zu ihm durch, ließen sich aber nicht erklären.

Der erste Schuss einer dieser Sonden verfehlte den Noris - Zwilling um ein Haar. Es war ein bläulicher Laser. Man hörte nichts. Nur der Strahl, der wirkte, wie ein Sonnenstrahl aus einem Kinderbuch, so unnatürlich. Jetzt jedoch konnte sich Noris der Panik nicht mehr entziehen. Sie packte ihn und riss an ihm, sodass er sich zu Boden schleuderte, vor die Füße des Fremden und schrie. Er schrie um Hilfe und das es doch aufhören möge.

Sie kamen nun aus allen Öffnungen, winzige, größere, dünne, dicke Sonden, es war ein riesiger Schwarm. Doch der Fremde blieb davon unberührt. Während um Noris und seinem Zwilling herum das Chaos fortschritt, begann sich etwas zwischen den beiden aufzubauen. Noris fühlte, wie die Panik noch immer sein Herz rüttelte, wie der Atem ihm fast wegblieb, als plötzlich in seinem Kopf der Traum erneut stattfand. Er saß wieder an dem Tisch, er sah die gleichen Gesichter, bis auf eines, nämlich sich selbst. Er erschrak nicht, sondern nickte ihm zu. Dann schob der andere Noris ihm ein Zettel zu. Es brauchte einige Minuten bis er den einen Satz darauf verstand. Es waren so fremde, so lang vergessene Worte. „Freiheit ist der Wunsch du selbst zu sein und zu träumen.“ Dann war es auch schon wieder vorbei. Noris erwachte in einem Ring von Sonden.

Der Fremde war fort.

Die anderen Menschen wurden ebenfalls von Sonden umschwirrt. Sie drängten verängstigt an die Wände und harrten dort aus. Noris Blick verfing sich an dem Koffer. Was war dieses Schließfach? Was war 382? Was war die Verwandlung? Die Fragen in ihm brannten wie Juckreiz auf der Haut. Er konnte nicht anders, als mit aller Wucht sich zu Boden zu schleudern, nach dem Griff des Koffers zu fingern. Er machte eine Rolle am Boden, hob den Koffer in der Bewegung auf und rannte einfach los. Die Weginstruktionen vom Chip ließ er sich auf die Retina blenden. „Freiheit“, hauchte er und lächelte.

Sofort zog der Schwarm hinter ihm her. Er sah die verängstigte Gesichter, entdeckte jedoch auch die Ausdruckslosigkeit in den Augen. Da war nichts was ein Gefühl barg, da war nur Angst, aber nicht im gefühlten Bereich, sondern vielmehr als Funktion. Es war so neu für ihn, dass er nicht verstand, dass er nun begann zu fühlen. Blaue Laserstrahlen stachen um ihn herum durch die Luft. Sie würden ihn nicht verletzten, dachte er. Wieso war ihm nicht klar. Als er am Ende des Ganges eines der verschlossenen Tore erreichte, ließ er sich mit aller Wucht dagegen fallen. Er glitt zu Boden, den Koffer noch immer umkrampft und blickte zurück, wo die Sonden unvermittelt zurück wichen. Zwischen der schwarzen Masse des Schwarms erkannte er den Fremden wieder. Sie hielten auf ihn zu. Er ließ sich fangen. Innerhalb eines Atemzugs hafteten sie an ihm wie eine zweite Haut. Er ging zu Boden.

+++


Zuerst waren es die Augen, die Noris ein Streich spielten, wenig später konnte er es einfach nicht mehr auseinander halten, was genau geschah, was nicht und wer er selbst war. Vor den Pupillen sammelten sich unzählige schwarze Punkte, sie wippten auf und ab, im freien Flug. Es waren keine Fliegen, sondern er erkannte die Sonden. Im nächsten Atemzug jedoch sah er den leeren Gang hinunter. Weiß, einsam, steril, verlassen. All die Menschen verschwunden! Der Fremde mit ihnen. Dann sah er wieder die Sonden, wie sie um ihn sich sammelten, die kleinen, fliegenartigen Netzaugen ihn sondierten. Ein hohes, kaum hörbares Fiepsen machte sich bemerkbar. Doch Noris blinzelte, nur um nach dem Wimpernschlag in das ihm bekannte Gesicht seiner Mutter zu sehen. Er schüttelte den Kopf. Das war nicht möglich, er war doch nun erwachsen, er brauchte keine Mutter, er hatte eine Aufgabe, er musste das Schließfach so schnell als möglich erreichen.

Aber sie sprach zu ihm: “Noris, es is’ zu deinem Besten. Du weißt, es ist Religion, dir passiert dort nichts. Es ist der einzige Weg hinauf, der Weg zum Ziel, zum Erlangen des Wissens. Glaube mir!“

Eine Erinnerung, stellte er fest. Er dachte zurück an den Tag, als sie ihn in das schwarze Auto drängten, von ihm Abschied nahmen. Es war kein Bild aus Grautönen, er schien sogar den Regen vom Vortag noch zu schmecken, der auf den Blättern des Eichenbaumes hing, der Schatten über das Auto warf. Seine Kindheit im Licht aus Sommerfarben. Wind strich über sein Gesicht. Die Männer im Wagen waren Mönche, sie waren von Minders Inc., dem Glaubensbekenntnis des Wissens. Mutter, Vater, Mr. Richardson, Ellys Eltern, alle glaubten an das Wissen, an die Verwandlung.

Verwandlung… wandlung… andlung, hallte es in ihm. Es war ein heißer Schmerz. Er merkte wie die elektronisch verstärkten Augen sich in das Weiß des Ganges einbrannten. Mit einem Mal war etwas in ihm. Es tat nicht weh, es war weder eine Sonde, noch ein Gefühl, es war so etwas wie ein Geist. „Die Verwandlung…“, hauchte er atemlos.

Bilder sind aus Farben. Noris schüttelte den Kopf so sehr, dass er gegen das verschlossene Tor hämmerte. Doch er spürte es nicht. Farbe ist die Essenz des Lebens. Blau ist Trauer, grün der Sommer, rot die Liebe, Gelb die Angst. Vor seinen Augen erschienen die Farben. Die elektronischen Augen spielten verrückt. Ein wildes Farbenmeer stürmte auf ihn ein. Noris, Freiheit ist Leben. Freiheit heißt Farbe, Farben sind das Leben.

„NEIN!“, schrie er. Doch der Gang verschluckte seine Worte, sie hallten nicht, sie verschwanden einfach.

Die Sonden waren nun wieder da. Sie schwirrten um ihn herum. Dieses Mal gab es keine Laserstrahlen. Eine dockte an seine Datenbuchse an. Wie eine verstärkte Antenne funktionierte sie und dann brach das Chaos los. Unzählige Kombinationen aus Zahlen, Wörter, Zeichen, Bilder, Stimmen, Melodien. Dazwischen ein Stakkato aus zischendem Rauschen. Er hielt sich den Kopf, rappelte sich auf, riss den Koffer mit sich und stemmte sich gegen die riesige Tür. Tränen rannen ihm die Wangen herunter. Im Kopf tobte ein ohrenbetäubender Orkan. Als die Tür sich hochschob, fiel er fast zu Boden. Wieder die Farben, doch er schloss die Augen. Das half nichts, er spürte sie nun. Blau war die Trauer, die ihn erfasste. Ihn mit sich zog, als er mit kraftlosen Schritten den weißen Gang entlang schritt. Der Koffer schlug ihm gegen die Beine. Die Sonden zogen sich zurück. Die Situation war unter Kontrolle. An der Decke folgten ihm zwei Überwachungssonden, aber sonst war er einsam und allein.

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Die Schließfachkammer befand sich am Ende dieses Ganges. Es war eine riesige Halle. Die Wände ein Spiegelmeer. So viele Noris’ die auf ihn starrten. Er glaubte den Fremden ins ich zu hören, wie er ihn warnte es nicht zu tun. Er schrie ihn an. Schreib einen Satz, schreib hundert Worte! Schrei einen Satz, schrei so laut du kannst. Lebe und sei du selbst, sei ein Mensch, nicht Maschine. Noris hatte keine Kraft. Die Augen suchten die eingestanzten Zahlenkombinationen nach 382 ab. Am Ende der letzten Reihe erblickte er die Zahlen in todfarbenen Schwarz.

Als er vor dem großen Schrank stand, ließ er den Koffer fallen. Das rote Kanji entschlüsselte sich, wurde grün, blinkte nun die Nummer, die ihn hierher geführt hatte. Die Türen der Halle fielen zu und dann legte sich Stille auf sein Herz. Er spürte keinen Atem mehr ins ich, es war alles so kalt. Er ließ den Kofferdeckel aufspringen. Der Inhalt war karg, wie Noris Leben. Eine Chipkarte, wohl zum Öffnen des Schließfaches. Eine Datacard die ihn identifizierte und die er in den Schlitz an der Seite des Faches stecken musste. Er wollte sich gerade Bücken, als ein heißer Schmerz in durchzuckte. Die Augen surrten, das Blut presste durch seine Adern, sein Herz raste und dann war er wieder in seinem Traum. Es war eine neue Variation. Er saß allein an dem Tisch. Vor ihm Datenscheiben, auf denen Texte elektronisch über die Anzeigen scrollten. Er las ohne zu verstehen. Er las Shakespeare, dann Hemmingway. Er blinzelte. Im nächsten Augenblick hockte er in einem Raum, las diese Bücher, laut, betont, voller Gefühl und war glücklich.

Dann war es vorbei.

Er war wieder in der Halle. Doch vor ihm stand sein Zwilling. „Lass mich gehen. Du hast eine Chance, du hast dein Bewusstsein zurück, du wirst es schaffen.“

„Ich verstehe nicht.“

„Noch nicht, meinst du…“ Noris blickte in seinen Gegenüber und erkannte sich, wie er dort in seinem Zimmer heute auf den Bildschirm gestarrt hatte, wie er den Koffer an sich genommen hatte und dann im See aus Menschen, eine weiß-schwarze Flut aus Körpern hierher schwamm. Aber irgendwo auf diesem weg hatte er die Kontrolle verloren. Und das war gut.

„Sie sperren Euch nur weg. Du wärest vielleicht Architekt. Aber es gibt kaum noch welche. Sie vernichten Euch alle, sie horten das Wissen, was ihr habt. Sie lernen es Euch, lassen Eure Gedanken absaugen, Eure Erfindungen, Geistesblitze mit dem Digitalen Membran verschmelzen und wenn sie Euch ausgesaugt haben, nutzen sie Eure Lebensenergie … wie eine Batterie.“ Der andere Noris sagte all dies, so mechanisch und Noris, der Mensch, erkannte, das sein Zwilling starb. Er starb für ihn.

Sie gaben sich die Hände, umarmten einander und dann sah Noris zu, wie sein Zwilling, sein zweites Bewusstsein, das aus dem tiefen seiner Seele empor gestiegen war um ihn zu retten, sich von ihm gespalten hatte, seine innere Revolution bewirkte, den Chip in den Schlitz schob. Ein elektronisches Keuchen, als die Tür aufsprang. Noris sah die vielen Chips in der röhre. Sein zweites Ich legte sich auf die heraus geschobene Bahre. Er winkte weder, noch war er bei ihm, als die Tür sich schloss.

Noris Tränen waren warm, so warm wie ein Gemisch aus den Farben rot und gelb. Die Zahl 382 an der Tür glühte nun grün und er war frei.